Technische Lösungen allein bringen uns nicht weiter

Mit einem neuen Computerprogramm der US-Firma Talespin können Arbeitgeber üben, wie sie auf möglichst empathische Weise Mitarbeitende entlassen können. Der Nutzer kann aus verschiedenen Sätzen auswählen, wie er dem Mitarbeiter die Botschaft überbringen will. Wenn man sich geschickt anstellt, akzeptiert Barry, der fiktive Angestellte, sein Schicksal fast klaglos. Wählt man die falschen Formulierungen, fängt er an zu weinen oder wird gar aggressiv. Dabei bewegt Barry seine Gesichtszüge so detailreich, dass er fast wie ein echter Mensch wirkt. Seine Körperhaltung stammt von einem Schauspieler, dessen Bewegungen aufgezeichnet wurden. Psychologen, Verhaltensforscher und Designer haben Barrys emotionale Reaktionen entworfen. Wer die Simulation spielt, kann durchaus das Gefühl entwickeln, er habe es mit einem echten Menschen zu tun. Bei der Verwendung des Programms stellen die Probanden allerdings fest, dass ihre Empathie, wenn sie Barry einige Male gefeuert haben, nach und nach einer gewissen Gleichgültigkeit weicht, was somit dazu führen könnte, dass es ihnen in Zukunft sogar leichter fallen würde, Mitarbeitende zu entlassen.

(NZZ am Sonntag, 2. Februar 2020)

Ein besonders drastisches Beispiel für den sich immer mehr ausbreitenden Trend, ein gesellschaftliches Problem mit technischen Mitteln lösen zu wollen. Dabei liegt das eigentliche Grundproblem ja nicht daran, wie empathisch oder unempathisch ein Angestellter auf die Strasse gestellt wird. Das eigentliche Grundproblem liegt vielmehr daran, dass Unternehmen überhaupt – aufgrund des gegenseitigen Konkurrenzkampfs und des Zwangs zu laufend steigender Rentabilität – Menschen, die über Jahre hervorragende Leistungen erbracht haben, von einem Tag auf den andern auf die Strasse stellen müssen. Das Computerprogramm gaukelt nun vor, dass Entlassungen in dieser Firma fortan ganz besonders sorgfältig und “menschlich” vorgenommen werden – und versperrt damit zugleich den Blick auf die grundlegenden Ursachen des Problems sowie möglicher gesellschaftspolitischer Lösungsansätze. Genau das Gleiche beim Automobil: Eifrigst beschäftigt man sich zurzeit mit der Entwicklung von Alternativen zum herkömmlichen Benzinauto. Und auch hier wird durch in Aussicht gestellten technische Lösungen der Blick auf die grundlegenden gesellschaftspolitischen Aspekte verbaut, auf die Frage nämlich, ob es tatsächlich sinnvoll – und ökologisch verantwortbar – ist, dass jeder Mensch auf ein eigenes privates Verkehrsmittel Anspruch hat oder ob es nicht viel sinnvoller wäre, den öffentlichen Verkehr so umfassend auszubauen, dass es das private Automobil gar nicht mehr brauchen würde. Besonders krass zeigt sich der Trend, sämtliche gesellschaftliche Probleme mit technischen Mitteln lösen zu weisen, auch im Bildungswesen. An einzelnen Schulen, vor allem in den USA, ist die Digitalisierung bereits so weit vorangeschritten, dass die Schülerinnen und Schüler schon die meiste Unterrichtszeit am Computer sitzen und die früheren Lehrkräfte aus Fleisch und Blut weitgehend überflüssig geworden sind – mit der Folge, dass die Schülerinnen und Schüler kaum mehr miteinander reden, sich gegenseitig über Erlebnisse, Ideen, Erfahrungen und Gefühle kaum mehr austauschen und nicht zuletzt auch ihr kritisches Denken auf der Strecke bleibt. Dass allenthalben technische Lösungen verfolgt werden, wo eigentlich grundlegende gesellschaftspolitische Diskussionen gefragt wären, ist freilich kein Zufall: Sowohl mit einem Computerprogramm für Mitarbeiterschulung, wie auch mit Elektromobilen, der Digitalisierung der Schulen und vielem, vielem mehr lassen sich Unsummen von Geld verdienen. Das Fatale daran: Der Kapitalismus, der dies alles überhaupt erst möglich macht, wird durch all das erst recht verfestigt. Wo alle nur noch in ihre Bildschirme starren und sich elektronisch miteinander verkabeln und berauschen lassen, wird nirgendwo mehr zwischen zwei Menschen jener Funken springen, der die Revolution oder wenigstens den ersten Schritt dazu auslösen könnte…