Tanja Stadler gewinnt einen Preis für “aussergewöhnliche Leistungen” – doch was ist mit den aussergewöhnlichen Leistungen, welche von Bauarbeitern, Krankenpflegerinnen und alleinerziehenden Müttern Tag für Tag erbracht werden?

 

Wie der “Tagesanzeiger” vom 24. Juni 2022 berichtet, erhält Tanja Stadler, Mathematikerin und ehemalige Leiterin der Covid-19-Taskforce, den diesjährigen Rösslerpreis der ETH Zürich im Wert von 200’000 Franken. Der Preis geht jährlich an Forschende, die “Ausserordentliches leisten”. Stadler erhält den Preis aufgrund ihrer wissenschaftlichen Forschungen im Zusammenhang mit dem sogenannten R-Wert, der angibt, wie viele Menschen jeweils von einer einzelnen Person angesteckt werden. Nicht, dass ich Tanja Stadler diesen Preis nicht gönnen würde. Aber wenn ich lese, dass dieser Rössler-Preis für “ausserordentliche Leistungen” verliehen wird, dann muss ich kurz mal leer schlucken. Was sind denn “ausserordentliche Leistungen”? Leistet nicht auch der Bauarbeiter, der bei Hitze und Kälte, im Sommer wie im Winter, unter unerbittlichem Zeitdruck glitschige Baugerüste hochklettert, schwere Eisenstangen schultert, Ziegelmauern aufschichtet, hochgefüllte Schubkarren in die Höhe stemmt, bis ihm fast der Rücken zerbricht, leistet nicht auch dieser Bauarbeiter Ausserordentliches? Und was ist mit den Krankenpflegerinnen, den Müllarbeitern, den Kanalreinigern, den Angestellten im Supermarkt, den Landarbeitern, den Putzfrauen, den Köchen, den Serviceangestellten und den alleinerziehenden Müttern, die sich von früh bis spät abrackern, für wenig Lohn viel arbeiten und sich unermüdlich um das Wohl ihrer Kinder kümmern? Es wird doch wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, sie alle würden nicht ebenfalls “ausserordentliche” Leistungen vollbringen. Der Unterschied ist nur: Weder der Bauarbeiter, noch die Putzfrau, noch die alleinerziehende Mutter werden für ihre Leistungen jemals einen Preis gewinnen, und schon gar nicht einen im Wert von 200’000 Franken. Preise in der kapitalistischen Gesellschaft sind denen vorbehalten, die sowieso schon zu den Privilegierten gehören. Preise schenken sich die Reichen gegenseitig – mit dem Geld, das sie den Armen gestohlen haben. Ja, gestohlen. Denn wenn man einfach so 200’000 Franken aus dem Hut zaubern kann, dann muss ja irgendwer dieses Geld überhaupt erst einmal erarbeitet haben. Und damit sind wir mitten im Kern der kapitalistischen Gesellschaftspyramide, die darauf beruht, dass am unteren Ende der Pyramide eine genügende Vielzahl von Menschen für ihre Arbeitsleistung weniger verdienen, als diese Arbeit eigentlich Wert wäre – damit sich am oberen Ende der Pyramide genug Geld ansammeln kann, um Luxusvergnügungen aller Arbeit möglich zu machen. Man könnte es auch noch anders formulieren: Wenn Tanja Stadler diesen Preis von 200’000 Franken erhält, dann ist das beispielsweise nur möglich, weil sie über Arbeitsgeräte aller Art verfügt, die alle von Menschen bis hin zum afrikanischen Minenarbeiter und der chinesischen Fabrikarbeiterin hergestellt wurden. Auch die Räumlichkeiten, in denen sie arbeitet, mussten irgendwann von irgendwem erbaut worden sein. Auch das Essen, mit dem sie sich täglich verpflegt, musste von irgendwem irgendwann angebaut, geerntet, verarbeitet, verpackt und transportiert worden sein. Und so weiter. Eigentlich, wenn es gerecht zu- und herginge, müsste Tanja Stadler ihren Preis mit allen, die dazu einen unentbehrlichen Beitrag geleistet haben, teilen. Sonst ist es eben, wie gesagt, nichts anderes als gestohlenes Geld. Doch noch scheint die Gerechtigkeit in ferner Weite zu liegen. Noch gibt es Preise ausschliesslich für jene, die sowieso schon im Rampenlicht stehen: Kunst-, Kultur-, Film- und Literaturpreise, die Music Awards, die Schweizerin und der Schweizer des Jahres, die Sportlerin und der Sportler des Jahres, der Nobelpreis, der Oscar, Preise für Forschung und wissenschaftliche Arbeit. Wir lange müssen wir wohl noch darauf warten, bis zum ersten Mal auch ein Preis verliehen wird an den Bauarbeiter des Jahres, an die Krankenpflegerin des Jahres, an die alleinerziehende Mutter des Jahres?