Syrien: Wenn man ein ganzes Volk einfach im Stich lässt…

 

Wenn du dir ein Bild davon machen möchtest, wie es in der Hölle aussieht, dann brauchst du nicht deine Phantasie anzustrengen. Es genügt, wenn du dich an einen der Orte in der Türkei oder in Syrien begibst, die in diesen Tagen von verheerenden Erdbeben heimgesucht worden sind. Eltern, die verzweifelt nach ihren unter dem Schutt begrabenen Kindern suchen, auch noch mitten in der Nacht bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, Menschen, die all ihr Hab und Gut verloren haben, Notfallstationen, die bis zum Erdboden zertrümmert sind und wo nicht mehr die geringste Hilfe zu holen ist, Hunger, Durst, Kälte, schmerzende Wunden, Hoffnungslosigkeit…

Dabei sind die Menschen im syrischen Teil des Erdbebengebiets noch um einiges härter betroffen. Denn das Erdbeben ist bei Weitem nicht die einzige Katastrophe, die im Verlaufe der vergangenen Jahre über sie hereingebrochen ist. Da ist auch ein Bürgerkrieg, der vor 13 Jahren begann, weite Teile des Landes in Schutt und Asche gelegt, weit über 500’000 Todesopfer gefordert und 13 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Da sind auch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern, der weitgehende Zusammenbruch des Gesundheitssystems und eine Choleraepidemie, die sich im Verlaufe des vergangenen Jahrs nach und nach im ganzen Land ausgebreitet hat. Da ist auch der Mangel an Nahrungsmitteln, von dem mehr als zwölf Millionen Menschen betroffen sind, davon 2,6 Millionen Kinder. Da ist auch der Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung und des Transportsystems. Und da sind vor allem auch die Wirtschaftssanktionen, die kurz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs von den USA und der EU verhängt wurden und wiederholt von verschiedensten humanitären Organisationen aufs Schärfste verurteilt worden sind, so zum Beispiel vom “Global Network for Syria”, das im Februar 2021 mit folgender Begründung ein Ende der Sanktionen forderte: “Die derzeitigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien blockieren den Zugang zu lebenswichtigen Gütern, verhindern den Wiederaufbau und tragen zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft und des Gesundheitssystems bei. Sie bilden eine kollektive Bestrafung der syrischen Zivilbevölkerung.” Oder von Chalid Hbubati, dem Vorsitzenden des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds, der sagte, die Sanktionen hätten sich in ein “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” verwandelt. Nicht zu fassen, dass ausgerechnet westlich-demokratische Staaten immer noch zu diesem Machtmittel greifen, wo doch spätestens seit den Sanktionen gegen den Irak 1991, denen über eine halbe Million Kinder zum Opfer fielen, endgültig klar sein müsste, dass Wirtschaftssanktionen stets nur die Schwächsten treffen. Wer das immer noch nicht glaubt, sollte sich nur mal die Bilder jener verzweifelten Männer und Frauen vor Augen führen, die jetzt in syrischen Dörfern und Städten mit blossen Händen in den Trümmern zerfallener Häuser nach Überlebenden graben, weil infolge der Sanktionen kein geeignetes Bergungswerkzeug vorhanden ist.

Und, wie bei so vielen Katastrophen: Wieder einmal sind die Frauen und die Kinder die Hauptleidtragenden: In den innersyrischen Flüchtlingscamps sind 20 bis 40 Prozent der Schwangeren und der stillenden Mütter unterernährt, fast jedes Kind in den Camps leidet Hunger. Und es ist nicht nur die Gegenwart. Auch die ganze Zukunft der Kinder und Jugendlichen, die alle von einem Leben in Glück und Frieden träumen, wird Tag für Tag systematisch zerstört. Letzten Endes sind sie allesamt Opfer männlicher Machtdemonstration, patriarchaler Herrschaftsgewalt, herrschsüchtiger Eroberungslust, von den Anführern islamistischer Rebellen über den syrischen Regierungsapparat bis hin zu den Heerführern, den Chefs von Rüstungskonzernen und den fein säuberlich in Anzug und Krawatte gekleideten Politikern sich gegenseitig zerstrittener Grossmächte. Wie eine Welt aussähe, die nicht von Männern, sondern von Frauen und Kindern regiert wäre, kann man sich nur in seinen schönsten Träumen ausmalen…

Und noch einmal wird die schreiende Ungerechtigkeit in ihrem ganzen Ausmass deutlich, wenn wir uns das Verhalten der Schweiz, die sich doch so gerne ihrer humanitären Tradition rühmt, vor Augen führen. Werden Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen aufgenommen und mit einem besonderen Aufnahmestatus privilegiert, geniessen Flüchtlinge aus Syrien, obwohl auch sie aus einem Kriegsgebiet stammen, keine vergleichbare Rücksichtnahme. Und während die Schweizerische Rettungskette unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Erdbebens eine Kolonne in die Türkei abdelegierte, erklärten die zuständigen Verantwortlichen des EDA, eine vergleichbare Aktion für Syrien sei nicht geplant, da “nicht genügend Kapazitäten für zwei Rettungskettenstaffeln” bestünden. “Wir können nicht verstehen”, so Michael Albs, Generalsekretär des Kirchenrats des Nahen Ostens, “dass der Westen sich immer wieder auf das Christentum und die Bibel beruft und dann ein ganzes Volk einfach im Stich lässt.”

“Es wird”, sagte Papst Franziskus, “in dem Masse Frieden herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.” Davon sind wir leider offensichtlich noch weiter entfernt denn je.