Sturm der Globalisierung

Mit äusserster Anstrengung hievt Pflegehelferin Hristina aus Kroatien die in Israel geborene, schwer übergewichtige, 76jährige Avigail aus ihrem Bett in den Rollstuhl. In einem kurzen Moment des Innehaltens, bevor Avigail in ihren Rollstuhl fällt, blicken sich die beiden in die Augen. Avigail murmelt etwas in gebrochenem Englisch, Hristina versteht kein Wort. Beide sind nahe der Verzweiflung. Die eine, weil sie etwas sagen will, was die andere nicht versteht, diese wiederum, weil sie den Wunsch noch so gerne erfüllen würde, wenn sie denn nur den gemurmelten Wörtern einen Sinn abgewinnen könnte. Nur zwischen ihren Augen entsteht so etwas wie eine kurze Begegnung zwischen den nach der gleichen Liebe dürstenden Seelen zweier Menschen, die der Sturm der Globalisierung aus zwei entgegengesetzten Richtungen in das gleiche schweizerische Altersheim verschlagen hat, in dem sie sich nun sprachlos gegenüberstehen. Wäre das nicht geschehen, dann wäre Avigail bis zu ihrem Tod im Kreise ihrer Familie aufgehoben geblieben und Hristina hätte nicht alte und pflegebedürftige Menschen in einem fremden Land mit einer fremden Sprache gepflegt, sondern alte und pflegebedürftige Menschen in ihrem eigenen Land, dort, wo sie jetzt so schmerzlich fehlt, dass man schon Pflegepersonal aus Nepal und den Philippinen herbeizuholen begonnen hat, wo dieses dann umso schmerzlicher fehlt, bis am Ende nichts mehr übrigbleibt und der Sturm der Globalisierung auch noch die allerletzten Wurzeln, mit denen die Menschen und ihre Erde miteinander verbunden waren, ausgerissen hat.