Sozialhilfe in Bern: Grund zur Euphorie?

«Bern zeigt Herz für die Schwächsten» titelt der «Tages-Anzeiger» zur Abstimmung über eine Reduktion der Sozialhilfe im Kanton Bern. Diese – also eine Kürzung der Sozialhilfe – wurde am vergangenen Wochenende von 52,6 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger abgelehnt. Das Ergebnis, so der «Tages-Anzeiger», habe auf linksgrüner Seite für «Euphorie» gesorgt, für die Mitglieder des Nein-Komitees sei es ein «historischer Erfolg».

(Tages-Anzeiger, 20. Mai 2019)

Ein Herz für die Schwächsten. Euphorie. Ein historischer Erfolg. Unglaublich, wie bescheiden die Ansprüche der Linken schon geworden sind. Gut, eine Reduktion der Sozialhilfe wurde verworfen. Dies aber bloss mit einer hauchdünnen Mehrheit. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat es übers Herz gebracht, einer Vorlage zuzustimmen, deren Annahme dazu geführt hätte, dass Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger künftig gerade mal noch fünf Franken pro Tag und Person fürs Essen zur Verfügung gehabt hätten – was anderes ist dies als ein unerhörter Skandal. Ausgedehnte wissenschaftliche Versuche haben gezeigt, dass sich Kinder bis zum Schuleintritt ausgesprochen sozial und fürsorglich verhalten. Wenn, wie das dieses Abstimmungsergebnis zeigt, nahezu die Hälfte der Erwachsenen einen so grossen Egoismus und so grosse Missgunst an den Tag legen, dass sie die Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft am liebsten in den Hunger oder gar in die Obdachlosigkeit treiben würden, dann muss dies etwas zu tun haben mit dem Hineinwachsen der Jugendlichen und späteren Erwachsenen in das kapitalistische Wertesystem, in dem jeder vor allem oder fast ausschliesslich nur noch für sich selber schaut und Werte wie Solidarität und Nächstenliebe immer mehr an Bedeutung verlieren. Einigermassen nachvollziehbar ist höchstens das Verhalten von Tiefstlohnbezügern. Diese rackern sich am Tag und oft auch in der Nacht doppelt und dreifach ab und müssen mit ansehen, dass Mitbürger und Mitbürgerinnen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen und Sozialhilfe beziehen, dennoch am Ende des Monats mehr in der Tasche haben als sie. Aber erstens machen Tiefstlohnbezüger nicht 48,4 Prozent der Bevölkerung aus und zweitens müssten diese, statt für eine Reduktion der Sozialhilfe, wenn schon für eine Anhebung der Mindestlöhne ankämpfen. Eigentlich ist es nur schon ein Skandal, dass über dieses Thema überhaupt abgestimmt wird. Die Sicherung der existenziellen Lebensgrundlagen sollte, gerade in einem so reichen Land wie der Schweiz, eine Selbstverständlichkeit sein, die man nicht im einen oder anderen Kanton an der Urne nach Belieben ein- und aushebeln kann. Demokratie in Ehren, aber schliesslich wird auch nicht darüber abgestimmt, ob man einen Mitmenschen, mit dem man Streit hat, auf offener Strasse erschiessen dürfe oder nicht.