Soziale Medien, Internet und das Elend der Welt: Heute kann niemand mehr behaupten, es nicht gewusst zu haben

Die sozialen Medien, sagt Herr B., würden viel mehr Schaden als Nutzen anrichten. Alle diese Bilder, die man in so kurzer Zeit gar nicht einordnen, richtig interpretieren und verarbeiten könne. Empörungswellen, die man nicht mehr unter Kontrolle haben könne. Fakenews und Falschmeldungen, die sich rasant schnell ausbreiten, Emotionen schüren, polarisieren und Feindbilder aufbauen. Deshalb, so Herr B., hätte er sich nun definitiv von sämtlichen sozialen Medien verabschiedet und es gehe ihm nun wieder viel besser…

Doch wie so manches, haben auch die sozialen Medien und all die Bilder, mit denen wir via Internet konfrontiert sind, nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Seite. Bilder schüren Emotionen, das stimmt. Aber das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, im Gegenteil. Ohne das Video, in dem der Afroamerikaner George Floyd zu sehen ist, der am 25. Mai 2020 in Minneapolis während neun Minuten und 29 Sekunden von einem weissen Polizeibeamten so brutal zu Boden gedrückt wurde, dass er keine Luft mehr bekam und starb, und dies nur, weil er zuvor beim Einkauf von Zigaretten angeblich einen gefälschten 20-Dollar-Schein verwendet hatte, ohne dieses Video, das sich sodann wie ein Lauffeuer in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball ausbreitete, wäre es wahrscheinlich kaum zur weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung gekommen, mit der bis heute Polizeigewalt und Rassismus angeprangert werden und an der heute niemand mehr, der sich mit diesem Thema ernsthaft befasst, vorbeizukommen vermag. Ohne die Bilder von Eisbären, die sich verzweifelt an schmelzenden, immer kleiner werdenden Eisschollen festklammern, bis sie zu Tode erschöpft in den Fluten des Meers versinken, wäre es möglicherweise auch nie zu jener weltweiten Klimabewegung gekommen, welche über alle Grenzen hinweg Millionen von Menschen auf die Strasse brachte im gemeinsamen Engagement für die Erhaltung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Ohne die Bilder von Kindern, die in quecksilberverseuchtem Schlamm ihre verlorenen Spielsachen suchen, wäre möglicherweise auch die Konzernverantwortungsinitiative, welche die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards von sämtlichen Konzernen mit Sitz in der Schweiz forderte, am 29. November 2020 nicht von einer Mehrheit der Schweizer Bevölkerung angenommen worden. Und ohne das Bild eines palästinensischen Mädchens im Gazastreifen, das inmitten schwerverletzter Menschen in unbeschreiblicher Verzweiflung nach seiner Mutter ruft und um alles in der Welt nicht begreifen kann, dass sie diese nie mehr sehen wird, wäre wohl der internationale Aufschrei und die wachsende Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe im aktuellen Nahostkonflikt auch heute noch um einiges geringer. Das war übrigens schon in der Zeit, als es noch kein Internet und keine sozialen Medien gab, nicht anders. Ohne das Bild jenes vietnamesischen Mädchens, das weinend, mit schmerzverzerrtem Gesicht, splitternackt um sein Leben rennt, während man im Hintergrund schwarze Wolken aus von der US-Armee versprühtem Napalm drohend näherkommen sieht, wäre es wahrscheinlich auch nicht zu jener millionenfachen Antikriegsbewegung inmitten der USA gekommen, die schliesslich dazu führte, dem Krieg früher als geplant ein Ende zu setzen.

Das ist das Gute: Die Wahrheit lässt sich heute nicht mehr verstecken, anders als zur Zeit des Sklavenhandels, der Hexenverbrennungen, der unbeschreiblichen, von europäischen Kolonialherren begangenen Gräueltaten an den Menschen in Afrika oder der Judenverfolgungen durch das Naziregime. Die Wahrheit breitet sich heute in Sekundenschnelle bis in die entlegensten Täler, bis auf die entlegensten Inseln der Erde aus. Freilich gibt es auch falsche Meldungen, Kriegspropaganda, Versuche, die öffentliche Meinung in gefährliche Richtungen zu lenken. Doch es ist die Aufgabe von uns allen, all die Bilder, mit denen wir konfrontiert sind, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, allem hartnäckig auf den Grund zu gehen, alles kritisch zu hinterfragen, uns nicht auf blindes Aufbauen von Feindbildern und Hass einzulassen. Was dann aber bleibt, sind all jene Bilder des Leidens und der Zerstörung, der Schmerzen und unsäglicher Ungerechtigkeiten, die wir nie mehr aus unseren Gedanken werden verdrängen können, die unauslöschliche Spuren hinterlassen und in uns jene Kraft entfachen können, die es braucht, um eine bessere, schönere und friedlichere Welt aufzubauen.

Denn es ist eben nicht so, dass, wie immer wieder behauptet wird, der Mensch ein von Natur aus böses, gewalttätiges Wesen ist, das durch Bilder der Gewalt nur wieder zu zusätzlicher, noch schlimmerer Gewalt angestachelt würde. Nein, die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen sind in ihrem Herzen gut, haben eine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Bilder der Gewalt, Bilder des Leidens, Bilder aus dem Krieg, Bilder zerstörter Landschaften fördern in ihnen nicht schlechte Eigenschaften, sondern steigern höchstens ihre Sehnsucht nach einer friedlicheren und gerechteren Welt ins Unermessliche.

Heute höre ich von immer mehr Menschen, dass sie keine Kraft mehr haben, dies alles zu ertragen, alle diese Bilder, alle diese Schmerzen. Sie sagen, das raube ihnen den Schlaf, sie verlören alle Hoffnung. Viele von ihnen verabschieden sich, wollen nichts mehr sehen und hören und schon gar nicht alle diese Bilder des Grauens und des Schreckens. Sie wollen wieder ganz einfach das Leben geniessen, sich an schönen Dingen erfreuen. Doch wir werden nicht glücklichere Menschen dadurch, dass wir die Augen vor dem Elend der Welt verschliessen und uns nur noch in unsere eigenen vier Wände, in Wellnessoasen, Luxusrestaurants oder idyllische Bergwelten zurückziehen und statt Zeitungen nur noch Liebesromane lesen. Glücklichere Menschen werden wir nur, wenn wir uns auf das Elend in der Welt einlassen, unsere Herzen berühren und uns wütend machen lassen, uns empören und uns einzumischen beginnen, um alles in unserer Macht Stehende zu tun, auch wenn es auf den ersten Blick noch so wenig zu sein scheint. Denn, wie eine als “Ubuntu” bezeichnete und vor allem in Ländern der Subsahara weit verbreitete Lebensphilosophie besagt, kann niemand alleine wirklich glücklich sein, solange so viele andere traurig sind. Dass über die sozialen Medien und über das Internet heute jegliches Wissen weltweit zugänglich ist, auferlegt uns eine Verantwortung, aus der wir uns nicht einfach so davonstehlen können. Denn heute, im Gegensatz zu früher, kann niemand mehr behaupten, es nicht gewusst zu haben.