Sitzblockade am Gotthard: Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben – ja schon, nur sollte auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleiben…

 

“Ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben”, empört sich B.M. auf Twitter über die Sitzblockade von Aktivistinnen und Aktivisten der Organisation Renovate Switzerland am gestrigen Karfreitag vor dem Gotthardtunnel. B.M. ist nicht der Einzige, der sich masslos geärgert hat. Für viele ist der Osterausflug in den Süden so etwas wie eine lange ersehnte Gelegenheit, dem “Hamsterrad” des mühsamen Alltags wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen und sich nach langen und harten Arbeitstagen eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Auch F.D., der so etwa jeden zweiten Monat für ein Wochenende nach Mallorca fliegt, Party feiert und sich “volllaufen” lässt, sagt, dass er es nur so schaffe, seinen “Scheissjob” auszuhalten.

Exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys also letztlich als Folge der kapitalistischen Arbeitswelt und all der Zwänge, dem Druck und der Fremdbestimmung, die mit ihr verbunden sind. Neueste Umfragen, wonach nur ein Fünftel aller Arbeitstätigen mit ihrer Arbeitssituation vollständig zufrieden sind und sich mit ihrem Job voll und ganz identifizieren können, bestätigen das. Auch, dass immer mehr Arbeitnehmende ihr Wochenpensum reduzieren, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass für viele Menschen Lebensfreude und Vergnügen nur wenig mit der täglichen Arbeitssituation zu tun haben.

Nur sind exzessives Fliegen, Autofahren und Strandpartys nicht die beste Lösung des Problems, sind ihre ökologischen Auswirkungen doch verheerend. Viel gescheiter wäre es, die Arbeitswelt so umzugestalten, dass sie Vergnügen und Lebensfreude nicht mehr länger ausschliesst und unterdrückt, sondern in die tägliche Arbeit einbezieht. Hierzu bedürfte es in erster Linie einer Überwindung des Konkurrenzprinzips, des weitverbreiteten Spar- und Renditedrucks, des Wachstumszwangs und der unsinnigen Idee, in immer kürzerer Zeit eine unaufhörlich wachsende Menge an Produkten und Dienstleistungen herzustellen, die am Ende gar niemand mehr braucht, die aber sowohl den Menschen wie auch der Natur unwiederbringlichen Schaden zufügen. Bezeichnend ist ja auch, dass man sich, wenn man Freunde trifft, meist nur über die letzten Ferien sowie die geplante nächste Ferienreise austauscht, so als fände das eigentliche Leben praktisch nur in den Ferien statt. Selten hört man Menschen in ihren Gesprächen über Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen in ihrer Arbeitswelt schwärmen, obwohl diese doch eine weitaus viel längere Zeitdauer in Anspruch nimmt. Würde es gelingen, die tägliche Arbeit zum eigentlichen “Abenteuer” des Lebens werden zu lassen, wäre wohl die Sehnsucht nach exzessiven Auszeiten um ein Vielfaches geringer.

Da schreibt doch E.F. auf Twitter, die Autos, welche dieser Tage am Gotthard im Stau stecken, würden nichts zur Klimaerwärmung beitragen. Also nur alle anderen? Und nur gerade diese nicht? Das eigene problematische Verhalten damit zu rechtfertigen, dass es ja alle anderen auch tun, erinnert auf erschreckende Weise an die Aussage des ehemaligen CS-CEOs Oswald Grübel, der auf die Frage eines Journalisten, ob er in Anbetracht seines Jahresgehalts von 20 Millionen Franken kein schlechtes Gewissen hätte, Folgendes zur Antwort gab: “Was ist schon gerecht? Die Welt ist voller Ungerechtigkeit. Weshalb soll ich da ein schlechtes Gewissen haben?” Über eine solche “Lausbubentaktik” sollten wir allmählich herausgewachsen sein. Alle sind für alles verantwortlich. Denn “was alle angeht”, so der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.”

Interessant ist auch, dass sich insbesondere das Autofahren auf überdicht befahrenen Strassen im Grunde jeglicher Vernunft entzieht. All die Osterreisenden, die jetzt wieder auf der Fahrt in den Süden in endlosen Kolonnen feststecken, wären um einiges schneller am Ziel, wenn sie die Eisenbahn benützen würden. Könnte auch da ein Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitswelt bestehen? Sind Autofahrer – der grössere Teil von ihnen sind Männer – wohl deshalb so erpicht, hinter dem Steuerrad zu sitzen, weil sie auf diese Weise nun endlich Macht und Kontrolle über etwas, und sei es nur eine Tonne Stahl und Blech, ausüben können, während doch im übrigen Leben stets nur über sie Macht und Kontrolle ausgeübt wird?

Ja, ein Leben ohne Vergnügen ist kein Leben. Ganz und gar einverstanden. Nur sollten wir damit so massvoll umgehen, dass auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch etwas davon übrig bleibt. Auch ohne Auto, Flugzeug und exzessive Strandpartys kann man wunderbare, genussvolle Auszeiten geniessen., und sei es nur das Bad in einem kalten Bergsee, ein Ameisenhaufen oder die Radfahrt von einem Dorf ins nächste. Wenn uns die Aktivistinnen und Aktivisten von Renovate Switzerland mit ihrer Sitzblockade im Osterverkehr am Gotthard dafür die Augen geöffnet haben, dann hat sich ihre Aktion mehr als gelohnt…