Selenski und die Schweiz: Friedensverhandlungen ohne den Einbezug sämtlicher Konfliktparteien?

Aus der Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski scheint sein Staatsbesuch in Bern am 14. Januar 2024 im Vorfeld des WEF ein voller Erfolg gewesen zu sein. So hat sich die Schweiz, wie Bundespräsidentin Viola Amherd bekanntgab, bereit erklärt, nicht nur den Wiederaufbau der Ukraine finanziell zu unterstützen, sondern auch, einen Friedensgipfel auf höchster Ebene zur Lösung des Ukrainekonflikts zu organisieren. Auf die Frage, welche Länder am geplanten Friedensgipfel dabei sein könnten, sagte Selenski, das seien prinzipiell alle Länder, welche die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen würden. Mit anderen Worten: Russland soll in die geplanten Friedensverhandlungen nicht einbezogen werden.

Doch kann man allen Ernstes Friedensverhandlungen führen wollen, wenn die eine der beiden Konfliktparteien gar nicht mit dabei ist? Und kann es die Aufgabe der neutralen Schweiz sein, solche “Friedensverhandlungen” an der Seite der einen der beiden Konfliktparteien zu organisieren und gleichzeitig die andere Konfliktpartei davon auszuschliessen? Erstaunlicherweise scheinen solche Fragen in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung kaum eine Rolle zu spielen. Selenski hat es einmal mehr meisterhaft verstanden, dank seinem diplomatischen Geschick und einer perfekt organisierten Charmeoffensive die Schweiz in sein Boot zu holen. Mit Aussagen wie “Neutral zu sein bedeutet für die Schweiz nicht, die Realität zu ignorieren” definiert er gleich von Anfang an, worin diese “Realität” besteht, nämlich einzig und allein aus seiner persönlichen Sicht und Darstellung des Ukrainekonflikts, bei der jeglicher Widerspruch schon von Anfang an gänzlich ausgeschlossen wird. Dass er dabei äusserst geschickt vorgeht, zeigt sich auch darin, dass er sich bereits vor der Pressekonferenz mit Viola Amherd mit verschiedenen Politikerinnen und Politikern, so etwa Nationalratspräsident Eric Nussbaumer und Ständeratspräsidentin Eva Herzog, sowie den Parteispitzen getroffen hatte. Und dies offensichtlich mit grossem Erfolg. Selbst Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP, schwärmte auf X, sie sei vom Treffen mit Selenski “beeindruckt” gewesen, wobei man sich unwillkürlich fragen muss, was genau sie so beeindruckt haben und was sie wohl erfahren haben könnte, was sie nicht sowieso schon wusste. Einzig die SVP verweigert sich dem Spektakel, hat aber offensichtlich auch nicht den Mut, eine klare Gegenposition einzunehmen, sondern erklärt ihr Fernbleiben mit Terminschwierigkeiten.

Was ist da von der vielgelobten schweizerischen Neutralität übrig geblieben? Die einzige wirklich glaubwürdige Antwort der Schweiz auf das Anliegen Selenskis hätte doch lauten müssen: Selbstverständlich beteiligen wir uns noch so gerne an Friedensverhandlungen. Wir wären, als neutrales Land, sogar auch dazu bereit, die Organisation und die Führung dieser Verhandlungen zu übernehmen. Aber nur unter einer Bedingung: Dass auch die andere Konfliktpartei, nämlich Russland, in die Verhandlungen einbezogen wird. Denn nur so kann eine dauerhafte, nachhaltige Lösung des Konflikts erreicht werden.

Man kann sich schon, wie die offizielle Schweiz dies gegenwärtig tut, zu hundert Prozent auf die Seite Selenskis und der Ukraine stellen. Aber das geht nur, wenn man unglaublich viele Fakten ausblendet, vor ihnen die Augen verschliesst und absolut nichts davon wissen will. Man muss die Augen davor verschliessen, dass entgegen den Zusicherungen führender westlicher Politiker zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen, genau dies in der Folge getan wurde und unweigerlich dazu führen musste, dass sich Russland in seiner Souveränität zunehmend bedroht fühlte. Man muss die Augen davor verschliessen, dass Putin kurz nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur und ein Ende der gegenseitigen Aufrüstung vorgeschlagen hatte, ohne dass der Westen auf dieses Anliegen eingegangen wäre. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die USA höchstwahrscheinlich beim gewaltsamen Sturz des russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch anfangs 2014 eine wesentliche Rolle spielten. Man muss die Augen davor verschliessen, dass nationalsozialistisch ausgerichtete Kampfverbände innerhalb der ukrainischen Armee seit 2014 im Donbass schwere Kriegsverbrechen begingen. Man muss die Augen davor verschliessen, dass die ukrainische Regierung spätestens ab 2019 mit rigorosen Gesetzen die Gleichberechtigung der russischen Sprache und Kultur innerhalb der Ukraine zu bekämpfen begann. Und man muss vor allem auch die Augen davor verschliessen, dass Putin noch im Dezember 2021 der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was von dieser kommentarlos zurückgewiesen wurde. Selbst wenn man das alles berücksichtigen würde, könnte man damit freilich dennoch nicht den Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 rechtfertigen. Aber man würde sich dann wenigstens davor hüten, die alleinige Schuld an diesem Konflikt ausschliesslich Russland in die Schuhe zu schieben. Sondern sich eingestehen, dass diese in der Budapester Zeitung vom 7. April 2023 veröffentlichte Aussage der tatsächlichen Wahrheit wohl um ein Vielfaches näher kommt: “Russland ist der Täter, der Westen aber ist der Verursacher.”

Man braucht nicht einem russischen Propagandasender aufzusitzen, um sich eine eigene kritische Meinung bilden zu können. Es genügt, die kritischen Stimmen innerhalb der eigenen westlichen Welt wahrzunehmen. So etwa sagte der US-Historiker George F. Kennan schon im Jahre 1997: “Die Entscheidung, die Nato bis an die Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Joe Biden, damals Senator, sagte, ebenfalls 1997: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der Nato auf die baltischen Staaten.” Papst Franziskus sagte im Mai 2022: “Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands. Vielleicht war es die Nato, die vor Russlands Tor bellte und Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.” Der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger sagte: “Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen gegenüber der anderen Seite sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.” Und Yves Rossier, früherer Schweizer Botschafter in Moskau, meinte: “Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.”

Gestern hat das WEF in Davos angefangen, dieses jährliche Stelldichein der Reichen und Mächtigen dieser Welt. Viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, werden sich hunderte Male einhellig zulächeln und zuprosten und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dabei um etwas viel Tiefgründigeres gehen wird als um das, was andernorts als “Smalltalk” bezeichnet wird, nur dass es millionenfach mehr kostet und eine millionenfach grössere mediale Präsenz einnehmen wird. Wäre es für die Menschheit nicht unvergleichlich viel gewinnbringender, stattdessen jedes Jahr ein fünftägiges historisches Seminar abzuhalten, um auf diese Weise der Wahrheit ein bisschen näher auf die Spur zu kommen, gegenseitige Feindbilder abzubauen und tatsächlich gemeinsame Lösungen für eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit aufzubauen?