Selbstoptimierung als kapitalistischer Volkssport

Ob bei der Arbeit, in der Schule und Familie, in der Therapie oder beim Stylisten, in der Kneipe oder im Club, im Fitnessstudio oder im Doppelbett: In allen Sphären des Lebens setzt sich die Leistungssteigerung durch. Überall wird optimiert, verglichen und bewertet, um noch besser zu funktionieren, mit dem Ziel, aus seinem persönlichen Dasein das Maximum herauszuholen. Nicht nur die beste Version seiner selbst sein, sondern die immer perfektere, lautet die Maxime… Programme auf dem Laptop, Apps auf dem Smartphone, die Kalorien oder Schritte zählen, Schlafphasen messen, Produktivität protokollieren, Tippfehler auswerten.. Neu ist die Fülle an technischen Möglichkeiten, mit deren Hilfe personenbezogene Daten getrackt, aufgezeichnet, analysiert, ausgewertet werden. So wird die Selbstoptimierung zum neuen Volkssport… Allein in den USA sind es mittlerweile 35 Millionen Menschen, die computergesteuert am eigenen Ich basteln. Und auch die Firmen springen auf: Bereits 2013 hat die Berliner Sparkasse über 300 Mitarbeitende mit digitalen Schrittzählern ausgestattet. 10’000 Schritte am Tag sollen ihre «Fitness steigern und die Krankheitsquote senken». Die amerikanische Apothekenkette CVS verlangt von Mitarbeitenden, die eine betriebliche Krankenversicherung abschliessen, deren Gewichtsdaten, Blutzuckerspiegel- und Körperfettwerte. Wer sich weigert, zahlt 50 Dollar mehr im Monat… In den bunten Welten von YouTube, Instagram, Facebook und Konsorten scheint alles wunderbar klar, übersichtlich und positiv. Du kannst, wenn du nur willst. Du musst nur den inneren Schweinehund besiegen, dann wird das schon…

(Liewo, 24. Februar 2019)

Was früher der Nationalstaat mit seiner Erziehung zu Gehorsam und Patriotismus oder die Kirche mit ihrer Erziehung zu Gläubigkeit, Fleiss und Selbstaufopferung war, sind heute die digitalen Programme der Selbstoptimierung. Die Freiheit, die wir uns mit dem Ablegen früherer Zwänge und Selbstbestimmung erkämpften, haben wir mittlerweile – ganz freiwillig und «selbstbestimmt» – wieder aufgegeben. Heute ist es nicht mehr Väterchen Staat oder der Pfarrer auf der Kanzel, der uns predigt, wie wir zu leben haben. Es sind die Apps auf unserem Smartphone, die diese Rollen übernommen haben und uns buchstäblich auf Schritt und Tritt vorschreiben, wie wir zu leben haben. So raffiniert ist der Kapitalismus. Dass wir meinen, wir lebten in einer Freiheit, die es in diesem Ausmass nie zuvor gegeben hat, während wir in Tat und Wahrheit an unserem eigenen Gefängnis basteln, dessen Stäbe immer enger und enger werden. Und wie beim Nationalismus und bei der Gläubigkeit: Alles Individuelle, Störende, Querliegende wird weggewischt, die Menschen werden sich gegenseitig und den Ebenbildern, denen sie nacheifern, immer ähnlicher – bis in letzter Konsequenz alle genau gleich sind. Wir sind geschockt, wenn wir die Soldaten Nordkoreas  im Fernsehen an ihrem Führer vorbeimarschieren sehen, alle wie ferngesteuert bis in die Fingerspitzen im gleichen Takt. Und tun selber, indem wir dem perfekt funktionierenden kapitalistischen Menschen nacheifern, nichts anderes…