Seenotretterinnen und Seenotretter auf der Anklagebank: Wenn Unrecht zu Recht wird…

 

Im sizilianischen Trapani sind, wie die “Wochenzeitung” vom 19. Mai 2022 berichtet, 21 Seenotretterinnen und Seenotretter angeklagt, es drohen ihnen bis zu zwanzig Jahren Haft. Ihr “Vergehen”: Sie hatten Zehntausende Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet. Die Staatanwalt behauptet, dass sie in “krimineller Absicht Ausländer zum Zweck der unerlaubten Einreise” transportiert hätten. Die Angeklagten betonen, sie seien nur die prominentesten Beispiele für eine umfassende Kriminalisierung. In den Gefängnissen von Italien und Griechenland würden Tausende von Geflüchteten sitzen, die in Europa Schutz gesucht hätten und denen nun Schlepperei vorgeworfen werde. “Richtigerweise aber”, so der deutsche Rettungssanitäter Sascha Girke, “würden nicht wir auf der Anklagebank sitzen, sondern die Verantwortlichen der rassistischen europäischen Grenzabwehr wie der abgetretene Frontex-Direktor Fabrice Leggeri.” So wird schleichend das Normale zum Verrückten und das Verrückte zum Normalen. Wer Leben rettet, wird kriminalisiert, wer durch Untätigkeit oder aktives Zutun Menschen in den Tod treibt, geniesst den Schutz und das Ansehen der “Legalität”. Mit anderen Worten: Wenn genügend viele Menschen mitmachen und nicht dagegen aufbegehren, wird das Unrecht zu Recht und das Recht zu Unrecht – ein aktuell gerade herrschender Zustand, dem schon der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht unvergesslich die Forderung entgegenstellte: “Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.” Nur dass es gegenwärtig noch viel, viel zu wenige sind, welche bereit sind, diesen Widerstand zu leisten. Doch das Ganze, so denke ich, geht noch viel weiter: Es sind nämlich nicht nur die Verantwortlichen der Frontexagentur, die auf die Anklagebank gehören. Es sind auch die Herren der globalen Banken und Finanzinstitute, die Börsenspekulanten, die Rohstoffhändler, die Besitzer und Manager der weltweiten Nahrungsmittel-, Technologie- Textil- und Rüstungskonzerne, die auf der Anklagebank sitzen müssten, kurz: alle, die am globalen kapitalistischen Riesengeschäft der Ausbeutung der Armen durch die Reichen, der Arbeitenden durch die Besitzenden, des Südens durch den Norden massgeblich beteiligt sind. Denn die Menschen aus dem Süden drängen nicht deshalb in den Norden, weil sie eine Fahrt im Schlauchboot über das Mittelmeer so romantisch fänden, sondern weil ihre Länder während Jahrhunderten durch die reichen Nationen des Nordens ausgebeutet wurden und bis zum heutigen Tag weiterhin ausgebeutet werden. Wenn die Schweiz aus dem Handel mit “Entwicklungsländern” fast 50 Mal mehr Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt, wenn US-Rüstungsunternehmen astronomische Gewinne dadurch erzielen, dass sich die Menschen in Syrien, Libyen oder der Ukraine gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn trotz immer dringenderer Warnungen vor einem Klimakollaps blindlings am Dogma eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums festgehalten wird – dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Zahl der Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihre Heimat verlassen müssen, immer grösser wird und wohl bald schon alles bisher Vorstellbare weit übertreffen wird. Und ja, dann werden eines Tages auch nicht nur die Banker, Rohstoffspekulanten und Waffenhändler auf der Anklagebank sitzen, sondern wir alle. Denn ein so weltumspannendes Macht- und Ausbeutungssystem wie der Kapitalismus kann nur so lange sein Unwesen treiben, als sich eine genügende Anzahl von Menschen aktiv daran beteiligen und die Maschine am Laufen halten, als Arbeitende, als Konsumierende, als Mitprofitierende, als genüsslich Abseitsstehende, die behaupten, sie hätten mit alledem nichts zu tun. Eines Tages wird es so sein, wie Brecht es gefordert hatte, nämlich, dass Widerstand zur Pflicht geworden sein wird. Und dass man, eines Tages, nicht mehr daran gemessen wird, wie viele Schnäppchen aus einer immer grösseren Glitzerwelt von unnötigem Luxus man sich ergattern konnte. Sondern daran, ob wir alles nur Erdenkliche und in unserer Macht Stehende getan haben, um uns für eine Welt zu engagieren, in der niemand mehr gezwungen ist, seine Heimat auf der Suche nach dem verlorenen Glück zu verlassen und es nicht mehr bloss eine schöne Vision ist, sondern die ganz selbstverständliche Lebenswirklichkeit, dass zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort über alle Grenzen hinweg für alle Menschen ein gutes Leben möglich geworden ist.