Sechs- oder mehrspurige Autobahnen oder wie ein zeitgemässes Gesamtverkehrskonzept auch noch ganz anders aussehen könnte…

 

Der Schweizer Bundesrat hat, wie das “Tagblatt” vom 11. Mai 2023 berichtet, eine Forderung der SVP übernommen: Die Autobahn A1 soll auf den Streckenabschnitten Bern-Zürich und Lausanne-Genf auf mindestens sechs Spuren ausgebaut werden. Gleichzeitig zeigen neueste Zahlen des Bundesamtes für Umwelt, dass der Verkehr für 30,6 Prozent aller Treibhausemissionen der Schweiz verantwortlich ist und 32 Prozent des gesamten Energieverbrauchs beansprucht. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Anzahl der immatrikulierten Personenwagen zwischen 2000 und 2022 um 33 Prozent zugenommen hat, während sich die Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum nur um 21 Prozent erhöht hat. Bereits ohne den geplanten Ausbau von Autobahnstrecken nimmt die Verkehrsinfrastruktur der Schweiz den im internationalen Vergleich überaus hohen Anteil von einem Drittel der gesamten Siedlungsfläche in Anspruch. 

Höchste Zeit für einen Marschhalt. Denn man braucht nicht allzu viel von Mathematik zu verstehen, um auszurechnen, wie sich alle diese Zahlen in den nächsten 10 oder 20 Jahren weiterentwickeln werden, wenn nicht grundsätzliche verkehrspolitische Weichenstellungen in eine andere Richtung erfolgen. 

Betrachten wir zunächst den Pendlerverkehr. Er ist dadurch bedingt, dass Wohnorte und Arbeitsorte zunehmend weiter voneinander entfernt sind. Arbeiten heute 71 Prozent der Berufstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde, waren es 1990 erst 58 Prozent. Dazu drei Gedanken: Erstens sollte ein so grosser Anteil der Arbeitswege wie nur möglich mit dem öffentlichen Verkehr abgewickelt werden. Zweitens sollten Arbeitswege, wo immer die Distanz es zulässt, mit dem Fahrrad oder zu Fuss erfolgen, was zwar möglicherweise mehr Zeit “verschlingt”, der Umwelt wie auch vor allem der individuellen Gesundheitsförderung umso mehr zugute kommt. Voraussetzung dafür wären ein grosszügig ausgebautes Radwegnetz und möglichst sichere Fusswege. Drittens, und dies wäre wohl die wirkungsvollste Massnahme, müsste alles daran gesetzt werden, dass Arbeitsorte und Wohnorte möglichst wenig voneinander entfernt wären. Dies lässt sich freilich nur erreichen durch eine gezielte Steuer-, Boden- und Wohnbaupolitik, würde aber nicht zuletzt die Lebensqualität all jener Pendlerinnen und Pendler massiv verbessern, die dann nicht mehr gezwungen wären, bis zu einem Viertel ihres Arbeitstages in einem überfüllten Zug oder Bus oder mit dem zermürbenden Warten in einer Autoschlange zu verbringen.

Ein weiterer grosser Anteil der Gesamtmobilität, nämlich rund 40 Prozent, geht auf das Konto des Freizeitverkehrs. Hier täte ein kritisches Hinterfragen so mancher liebgewonnener Gewohnheiten dringendst Not. Macht es wirklich Sinn, mit dem Auto zum Fitnessclub zu fahren, um dort seine Muskeln zu stärken, oder wäre es nicht gescheiter, sich seine Fitness mit täglichem Radfahren in der freien Natur aufzubauen? Liegt das Schöne immer nur in der Ferne oder gäbe es nicht auch in der nächsten Umgebung des eigenen Wohnortes noch viel Spannendes zu entdecken? Ist das Wandern oder Radfahren durch neue, unbekannte Landschaften nicht so viel erholsamer und erlebnisvoller, als wenn man bloss mit dem Auto in Windeseile alle verborgenen Schätze blindlings an sich vorbeisausen lässt?

Wir sind uns gewohnt, bei der Arbeit wie auch im Alltag, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erledigen. Wenn wir für eine Strecke von A nach B mit dem Auto 20 Minuten benötigen, mit dem öffentlichen Verkehr aber eine halbe Stunde, dann nehmen wir in aller Regel das Auto. Wir könnten aber auch den Zug nehmen und in dieser “verlorenen” Zeit ein Buch lesen und hätten die “verlorene” Zeit schon wieder gewonnen. So oft ist Zeit, die “verloren” zu gehen scheint, bei näherer Betrachtung Zeit, die man gewinnt. Wir brauchen, so irritierend das auf den ersten Blick klingen mag, eine neue Kultur der Langsamkeit. Der Zwang, in immer kürzerer Zeit immer mehr erledigen, verprassen und geniessen zu wollen, wird uns an einen Punkt bringen, an dem das ganze System kollabiert und es am Ende überhaupt nichts mehr zu geniessen gibt. Schon heute verbraucht die Schweiz drei Mal so viel Energie und Ressourcen, als die Erde auf natürliche Weise im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag. Der Klimawandel, das Tier- und Pflanzensterben und der Verlust an Biodiversität bedrohen zunehmend unsere zukünftigen Lebensgrundlagen. Ob wir wollen oder nicht: Ohne ein radikales Hinterfragen unserer bisherigen Verschwendungssucht besteht wenig Aussicht darauf, dass all das, was uns heute noch selbstverständlich erscheint, auch in 10 oder 20 Jahren noch selbstverständlich sein wird.

“Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte Friedrich Dürrenmatt. Unsere Verkehrsgewohnheiten geben das beste Beispiel dafür ab. Das private Automobil, in grossem Stil aufgekommen nach dem Zweiten Weltkrieg, basiert auf dem Irrglauben grenzenloser Freiheit, die sich heute immer stärker als Illusion entpuppt, bedroht die “Freiheit” der einen doch in immer stärkerem Ausmass die Freiheit aller anderen. Der öffentliche Verkehr dagegen beruht auf der genialen Idee, dass Mobilität etwas ist, was “alle angeht” und daher auch nur “von allen gelöst” werden kann. Dies würde voraussetzen, das öffentliche Verkehrsnetz so weit auszubauen, dass das private Automobil früher oder später überflüssig geworden sein wird bzw. nur noch für jene Zwecke gebraucht wird, wo es keine sinnvolle Alternative gibt, also zum Beispiel für Ambulanzen, Polizei, Handwerker, Bau- und Transportgeschäfte, abgelegene Berggebiete, Transport älterer oder behinderter Menschen, usw. 

Eine logische Konsequenz aller dieser Überlegungen wäre die Einführung eines Nulltarifs im öffentlichen Verkehr. Denn rechnet man all die Kosten zusammen, die heute für den Bau und Unterhalt von Strassen, für die Herstellung und den Betrieb von Automobilen sowie für Massnahmen zu Umwelt- und Klimaschutz ausgegeben werden, so müsste die Finanzierung eines kostenlosen öffentlichen Verkehrssystems nicht allzu unrealistisch erscheinen. Und das Beste ist: Eine solches radikales Gesamtverkehrskonzept müsste von niemandem als Verlust, Verzicht oder Einschränkung empfunden werden, sondern wäre ein Gewinn für alle.