Russische Atomwaffen im All: Gibt es nicht so etwas wie journalistische Sorgfaltspflicht?

Und wieder ein Paradebeispiel dafür, wie aktuelle westliche “Berichterstattung” erfolgt und wie dabei schrittweise Vermutungen, Behauptungen und Tatsachen so systematisch vermischt werden, bis am Ende nur noch eines übrigbleibt: panische Angst und der Schrei nach immer mehr und noch mehr militärischer Aufrüstung.

“Was will Putin mit einer Atomwaffe im All?” – so der Titel des Artikels im schweizerischen “Tagblatt” vom 16. Februar 2024. Im Untertitel steht dann, schon in viel kleinerer Schrift: “Russland stationiert angeblich eine Atomwaffe im Weltraum.” Nachdem also mit dem grossen, fettgedruckten Titel der Eindruck erweckt wurde, als sei diese “Atomwaffe” bereits Tatsache, erfolgt auf der nächsten Zeile sogleich relativierend das Wort “angeblich”. Im Klartext also: Eigentlich weiss man noch gar nichts.

Im ersten Abschnitt des nun folgenden Artikels heisst es: “Mit aussergewöhnlicher Dringlichkeit warnte ein hochrangiger Republikaner vor einer ernsten Bedrohung der Sicherheit der USA.” Im Klartext: Eigentlich weiss man zwar überhaupt noch nichts Eindeutiges, nur dass es “aussergewöhnlich”, “dringlich”, “ernst” und “bedrohlich” sei, die “Sicherheit” der USA gefährde und von einem “hochrangigen” Politiker so formuliert worden sei. Sechs feuerrot leuchtende Signalwörter im Kopf der Leserin und des Lesers, als bräuchte es nur einen Knopfdruck und die ganze Welt wäre am Ende. Obwohl man, wohlgemerkt, eigentlich noch gar nicht weiss, ob es diese “Wunderwaffe” überhaupt gibt oder überhaupt geplant wird.

Der Text geht folgendermassen weiter: “Aus Sicherheitskreisen sickerte durch, dass es sich wohl um eine russische Nuklearwaffe handle, die im All stationiert werden soll.” Mit dem Wort “wohl” wird zwar noch einmal gesagt, dass es sich offensichtlich möglicherweise auch nur um eine Vermutung handeln könnte, aber das wars dann auch schon. Im weiteren Verlaufe des Artikels wird die Vermutung immer mehr zur unumstösslichen Gewissheit hochstilisiert, sodass am Ende wohl kaum mehr irgendwelche Zweifel übrigbleiben. Dann erfahren wir auch, dass die Information aus “Sicherheitskreisen” gekommen und von dort “durchgesickert” sei. “Sicherheitskreise”? Da kommt einem schnell einmal die CIA in den Sinn. Und wenn man das Wort CIA hört, muss man wohl unmittelbar an die unzähligen Lügen denken, welche von dieser Organisation über Jahrzehnte hinweg verbreitet wurden, und zwar jedes Mal, wenn es darum ging, einen Militärschlag der USA zu rechtfertigen und auszulösen, vom Zwischenfall im Golf von Tonkin, welcher den Vietnamkrieg auslöste, über die “Brutkastenlüge” 1991 und die Lüge von den irakischen “Massenvernichtungswaffen”, welche die beiden US-Invasionen in den Irak begründeten und auslösten. Und “durchgesickert”: Durch wen, wo, wann und möglicherweise durch was für einen politischen Zweck verfärbt oder zurechtgestutzt? Einer so dubiosen Quelle also wird blindlings geglaubt, während die unmittelbare Stellungnahme der russischen Regierung, wonach es sich bei der Behauptung über die russische Weltraumwaffe um reine US-Propaganda handle, im ganzen Artikel des “Tagblatts” nicht einmal erwähnt wird. Aber selbst wenn sie erwähnt wäre, würde man ihr vermutlich sowieso keinen Glauben schenken, ebenso wenig wie Putin, der sich im Interview mit dem US-amerikanischen Journalisten Tucker Carlson am 9. Februar unmissverständlich dahingehend äusserte, Russland plane nicht den Angriff auf irgendeines der NATO-Länder. Im Klartext: Der CIA glaubt man alles, Putin glaubt man nichts.

Es folgt ein Interview mit dem “Sicherheitsexperten” Fabian Hoffmann, der “in Oslo” zu nuklearer Energie “forsche”, so das “Tagblatt”. “Sicherheitsexperte”, “Oslo”, “forschen” – tönt alles höchst vertrauenserweckend und wird wohl die letzten Zweifel der Leserin und des Lesers aus dem Weg räumen. Denn lügen kann ein westlicher “Sicherheitsexperte”, im Gegensatz zu Putin oder einer anderen offiziellen russischen Stimme, wohl kaum. Nun, der “Sicherheitsexperte” sagt Folgendes: “Wir müssen noch abwarten, was genau da stationiert wird.” Aha, sogar er räumt ein, dass man eigentlich noch gar nichts weiss und wir noch gar über die Stufe reiner Vermutung hinausgekommen sind. Aber obwohl er fordert, “abzuwarten”, tut er eine Sekunde später genau das Gegenteil und verkündet im Folgenden: “Es gibt zwei Theorien: Die erste ist, dass Russland eine Anti-Satelliten-Waffe im All aufbaut. Die zweite ist, dass ein elektromagnetischer Puls ausgelöst wird, der mit Energie aus einem Nuklearreaktor versorgt wird.” Angesichts dieser Aussagen müsste sich nun der Leser oder die Leserin, technisch vermutlich bereits leicht überfordert, wohl die Frage stellen, ob es denn nicht noch eine dritte Theorie geben müsste, nämlich, dass die besagte Waffe gar nicht wirklich existiert, sondern vielleicht nur das Hirngespinst der CIA oder irgendwelcher “Sicherheitsexperten” sein könnte. Aber nichts dergleichen. Der dritten Theorie ist der “Sicherheitsexperte” elegant aus dem Weg gegangen und was nun weiter folgt, ist tödliche Gewissheit anstelle irgendwelcher Vermutungen oder Spekulationen…

Er sagt: “Russland signalisiert mit dieser Aktion: Wir haben etwas Neues, mit dem wir absichtlich eskalieren können. Ein neues Werkzeug. Der Bevölkerung im Westen wird so signalisiert: Es wird chaotischer, wir bewegen uns weiter auf den Abgrund zu, auch unbeabsichtigt könnte die Lage jederzeit ausser Kontrolle geraten. Russland spielt mit dem Feuer. Es ist eine Taktik, eins zu eins aus dem Handbuch des Kalten Kriegs. Niemand weiss genau, was da läuft – so will uns Russland einschüchtern.” Unglaublich, aber wahr: Eigentlich weiss man nichts, eigentlich könnte alles auch nur erfunden sein, aber eines steht fest: Wir bewegen uns weiter auf den Abgrund zu. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin werden sich wohl spätestens jetzt die Frage stellen müssen, ob es nicht vielleicht eher umgekehrt ist und ob nicht Russland oder Putin, sondern die westliche Seite genau das tut: das Spiel mit dem Feuer, der Griff ins Handbuch des Kalten Kriegs, indem nämlich dadurch, dass der Teufel an die Wand gemalt wird, in den Bevölkerungen der westlichen Länder eine so grosse panische Angst entsteht, dass auch noch der letzte Euro und der letzte Dollar in eine immer sinnlosere Aufrüstung nie dagewesenen Ausmasses gesteckt werden und damit Russland früher oder später genau zu dem gezwungen wird, was zu beabsichtigen man ihm jetzt vorwirft: nämlich, zu einem Befreiungsschlag auszuholen. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, das Russland von insgesamt 2000 US-Militärstützpunkten umzingelt ist und die europäischen NATO-Staaten – ohne die USA – bereits heute vier Mal mehr Geld für ihr Militär ausgeben als ganz Russland.

Weiter spricht der “Sicherheitsexperte” von einem “Dammbruch, den wir hier sehen” und davon, dass dies die “Tür für weitere solche Aktionen öffnet”. Um dann, unvermittelt, offensichtlich durch einen Geistesblitz getroffen, einzuräumen: “Eigentlich wissen wir gar nicht, was genau passiert.” Um eine Sekunde später schon wieder in die zuvor aufgebaute Logik zurückzufallen: “Trotzdem müssen die anderen Staaten reagieren.” Im Klartext: Eigentlich wissen wir immer noch nicht, ob nicht vielleicht alles bloss erfunden ist, egal – wir müssen reagieren. Die westlichen “Entscheidungsträger”, so der “Sicherheitsexperte” hätten die Botschaft, wenn auch “sehr spät”, nun hoffentlich “endlich verstanden”, nachdem zwei Jahre “verschwendet” worden seien, immer noch viel zu wenig getan werde und insbesondere Deutschland und Frankreich ihre Rüstungsindustrien “noch stärker mobilisieren” müssten.

Schliesslich warnt der “Sicherheitsexperte” vor “gezielten russischen Raketenangriffen auf europäische Städte” und wünscht sich “mehr Bewusstsein unserer Politiker.” Vielleicht stellt sich dem einen Leser oder der anderen Leserin jetzt endgültig die Frage, weshalb sogenannte “Sicherheitsexperten” offensichtlich fast immer Experten in Sachen militärischer Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sind und nicht Experten in Sachen Deeskalation, Friedensförderung und dem Abbau gegenseitiger Feindbilder und Drohgebärden.

Ich lege das “Tagblatt” beiseite und schlage den “Tagesanzeiger” auf. Hier lautet die Schlagzeile “USA warnen vor russischem Krieg der Sterne”. Krieg der Sterne – was für grässliche Bilder dies wohl, auch in Verbindung mit dem gleichnamigen Spielfilm, vor den Augen der meisten Leserinnen und Leser auslösen wird. Doch auch hier ist zu lesen: “Eine offizielle Bestätigung dieser Informationen liegt bislang nicht vor.” Also vielleicht tatsächlich alles nur Schall und Rauch? Und weiter: “Allerdings ist bislang nicht öffentlich bekannt, ob es sich um eine Atomwaffe handelt oder um eine Waffe, die von Kernenergie gespeist wird.” Wenn jetzt nicht dem letzten Leser und der letzten Leserin die Schuppen von den Augen fallen müssten! In sämtlichen Schlagzeilen sämtlicher westlicher Medien ist von einer neuartigen “Atomwaffe” die Rede, aber es ist noch einmal sicher, ob es sich – vorausgesetzt, es ist nicht sowieso alles frei erfunden – tatsächlich um eine richtige Atomwaffe handelt oder bloss um eine Waffe, die von Kernenergie gespeist ist, so wie jede zweite Lokomotive oder die meisten E-Mobile, die sich über unsere Schienen oder Strassen bewegen…

Es gäbe “Hinweise” darauf, dass die russische Rüstungsindustrie an solchen “Möglichkeiten” forsche, Russland “könnte” den Alltag in feindlichen Ländern auf den Kopf stellen, Russland könnte “möglicherweise” den Weltraumvertrag von 1967 verletzen, so kann man im Folgenden lesen. “Hinweise”, “Möglichkeiten”, “könnte”, “möglicherweise”… – vielleicht kommen dem Leser und der Leserin bei solchen Ausdrücken die Hexenprozesse im 17. und 18. Jahrhundert in den Sinn, da wurde auch darüber spekuliert, ob diese oder jene Frau in dieser oder jener Nacht auf einem Besen durch den Himmel geflogen sein könnte und möglicherweise eine Kuh vergiftet haben könnte und es vielleicht auch Hinweise darauf gäbe, dass sie es höchstpersönlich mit dem Teufel getrieben haben könnte – bis ganz gewöhnliche Frauen am Ende Hexen waren, zu Tode gefoltert oder bei lebendigem Leib auf Scheiterhaufen verbrannt wurden…

Aber damit nicht genug. “Technologien, die das Abschiessen von Satelliten mittels Raketen ermöglichen”, so der “Tagesanzeiger”, “existieren bereits heute und werden unter anderem von den USA und China angewendet.” Aha! Ist die russische “Wunderwaffe” somit vielleicht bloss eine Reaktion auf eine ähnliche, bei anderen militärischen Grossmächten längst bekannte Waffe?

Besonders interessant nun folgende Ausführungen des “Tagesanzeigers”: Die Nachricht über die russischen Pläne, welche in Washington “grosse Aufregung” ausgelöst hätten, seien auf “ziemlich unübliche Weise publik geworden”. Den Startschuss hätte Mike Turner gegeben, Vorsitzender des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus, und zwar mit einer “rätselhaften Botschaft”: Er hätte via soziale Medien Präsident Joe Biden dazu aufgefordert, sämtliche nachrichtendienstliche Informationen über eine “ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA” freizugeben. Auch der “Tagesanzeiger” mutmasst, ob es da eventuell einen Zusammenhang geben könnte zwischen dieser “ernsthaften Bedrohung” und einer kürzlich erfolgten Reise von Mike Turner nach Kiew und der von ihm anschliessend an seine Parteifreunde gerichteten Aufforderung, zusätzliche Gelder für die Aufrüstung der Ukraine zu sprechen. Alles also nur Schall und Rauch, Mittel zum Zweck, durch das Schüren von Panik militärische Aufrüstung voranzutreiben?

Immerhin erwähnt der “Tagesanzeiger” im Gegensatz zum “Tagblatt”, dessen Leserinnen und Lesern diese Information vorenthalten wird, dass der Kreml die US-Informationen über die neuartige russische Waffe als reine Propaganda des Weissen Hauses darstelle, die den US-Kongress dazu bewegen solle, der Ukraine mehr Geld zur Verfügung zu stellen. So ganz aus der Luft gegriffen scheint diese Sichtweise nach allem bisher Gelesenen wohl kaum zu sein. Aber eben, wer glaubt schon einer offiziellen Stellungnahme der russischen Regierung. Da hält man sich doch lieber an die Mutmassungen und Spekulationen westlicher “Geheimdienste” und “Sicherheitsexperten”…

So wie das auch das Gratismagazin “20minuten” tut, welches ich mir nun als drittes Informationsmittel anschaue. “Das wären die Folgen einer nuklearen Detonation im All” – so die Schlagzeile. Und weiter: “Russland soll an Plänen arbeiten, mit Atomwaffen Weltraumsatelliten anzugreifen. Eine nukleare Detonation könnte auf einen Schlag Tausende von Satelliten in der erdnahen Umlaufbahn funktionsunfähig machen. Fernsehen und Radio, die Satellitennavigation und andere Ressourcen würden jahrelang ausfallen – und zwar weltweit. Zudem könnten Tausende manövrierunfähige Satelliten zu einer exponentiellen Zunahme von Weltraumschrott führen. Die schiere Menge an Trümmern könnte den Weltraum unerreichbar machen.” Worte, die es einem mehr als kalt über den Rücken laufen lassen. Und dies, obwohl immer noch nicht sicher ist, ob nicht alles bloss reine Vermutung ist, und, selbst wenn es diese Waffe gäbe, es wirklich eine Atomwaffe wäre, oder bloss eine von Atomstrom angetriebene. Aber ja, was die Leserinnen und Leser des “Tagblatts” wissen, wissen die Leserinnen und Leser des “Tagesanzeigers” halt eben nicht. Und was diese wissen, wissen die anderen wieder nicht, und auch alle, die ihre Informationen der TV-Tagesschau entnehmen, werden nur einen sehr kleinen und willkürlich ausgewählten Ausschnitt aus dem Thema mitbekommen…

Habe ich irgendwann, vor vielen Jahren, mal etwas von “journalistischer Sorgfaltspflicht” gehört oder gelesen, von der Verpflichtung, zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort und Bild mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben? Oder habe ich das alles nur geträumt?