Regierungen und Parlamente: Von der angemessenen Abbildung sämtlicher Bevölkerungsgruppen noch weit entfernt…

 

“Die Zusammensetzung der politischen Gremien sollte die Bevölkerungsanteile angemessen abbilden” – sagt Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin und Co-Präsidentin von Alliance F, in den Mittagsnachrichten von Radio SRF am 3. November 2021. Und sie meint damit den Frauenanteil in den entsprechenden Regierungen und Parlamenten. Doch mit einem höheren Frauenanteil ist eine “angemessene Abbildung” der Bevölkerung bei Weitem noch nicht erreicht. Sehen wir uns nämlich die Zusammensetzung von Regierungen und Parlamenten etwas genauer an, dann stellen wir unschwer fest, dass die Bevölkerung in Bezug auf Beruf und Ausbildung höchst ungleich vertreten ist und zahlreiche Berufsgruppen, denen Hunderttausende von Menschen angehören, sogar überhaupt nicht vertreten sind. Wären die verschiedenen Bevölkerungsgruppen tatsächlich angemessen vertreten, dann müssten beispielsweise im Nationalrat mehr Bauarbeiter als Rechtsanwälte sitzen, mehr Verkäuferinnen als Akademikerinnen, mehr Köche, Kellnerinnen und Putzfrauen als Unternehmer, Landwirte, Ökonomen und Rechtsberater. Die Diskriminierung von Frauen ist wenigstens seit Jahrzehnten ein öffentliches Thema und entsprechend gross sind die erreichten Fortschritte. Dies kann man von der Diskriminierung der werktätigen Bevölkerung auf den unteren Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide ganz und gar nicht behaupten. Im Gegenteil: Kein Mensch spricht von der gesellschaftlichen Diskriminierung von Bauarbeitern, Friseusen und Putzfrauen, niemand fordert eine angemessene Vertretung von Nichtakademikern gegenüber Akademikern in sämtlichen politischen Gremien. Dies hat wohl vor allem damit zu tun, dass tiefsitzende, fest in unseren Köpfen verankerte Vorurteile längst noch nicht überwunden sind. Früher waren es die Vorurteile und Denkmuster von Männern, welche es den Frauen nicht zutrauten, zu politischer Arbeit fähig zu sein oder Frauen sogar als weniger “intelligente” Wesen betrachteten. Heute sind es die Vorurteile der so genannt “Gebildeten” gegenüber den so genannt “Ungebildeten”, die den Unternehmer oder die Historikerin zur irrigen Meinung verleiten, ein Schreiner oder eine Putzfrau wäre nicht in der Lage, anspruchsvolle politische Arbeit zu leisten. Eine Blockade, mit der ein grosser Teil der Bevölkerung zu politischer “Unmündigkeit” verdammt wird und die erst gelöst werden kann, wenn das, was man als “Lebensbildung” oder “Volksbildung” bezeichnen könnte, den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert bekommt wie das, was als “akademische” Bildung bezeichnet wird. Ich jedenfalls könnte mir vorstellen, dass ein Parlament, in dem wirklich alle Bevölkerungsgruppen angemessen vertreten wären, nicht nur weit bessere politische Resultate erzielen würde, sondern zugleich bei der breiten Bevölkerung, die sich nun tatsächlich auch vertreten fühlen würde, viel breiter abgestützt wäre. So wie die Gleichstellung der Frauen, ist auch die Gleichstellung der werktätigen Bevölkerung nicht mehr und nicht weniger als ein unerlässlicher Schritt in Richtung einer Demokratie, die diesen Namen, nämlich die “Volksherrschaft”, auch tatsächlich verdient…