Pro-Palästina-Proteste jetzt auch an Deutschschweizer Hochschulen “im Keim erstickt”: Die Angst vor der Wahrheit muss unermesslich sein…

“Gaza-Proteste an der ETH in Zürich im Keim erstickt” – so die Schlagzeile auf der Titelseite des “Tagesanzeigers” vom 8. Mai 2024. Während die Uni-Besetzung in Lausanne noch andauere und ständig wachse, sei in Zürich, so schreibt die Zeitung, “schon nach wenig mehr als drei Stunden Schluss” gewesen, die Demonstrierenden seien “wegen Hausfriedensbruch von der Stadtpolizei abgeführt” worden, eine Person nach der andern, bis sich die letzten fünf Frauen gemeinsam hätten abführen lassen, um dann aber nochmals gemeinsam aufzustehen und “Free Palestine” zu rufen. Nach der Räumung des Gebäudes hätte die ETH ein Communiqué verschickt mit der Mitteilung, “unbewilligte Aktionen” würden “nicht akzeptiert”. “Unsere Rolle”, so Luciana Vaccaro, Präsidentin der Schweizer Hochschulen, im Interview mit dem “Tagesanzeiger”, “ist eine akademische, nachdenkende, verstehende – nicht eine politische.” Und Johanne Gurfinkel, Leiter des Westschweizer Büros gegen Antisemitismus und Diffamierung, spricht von einer “kleinen Minderheit romantisch verklärter Revolutionäre, die sich nicht wirklich bewusst sind, was sie mit ihrem Handeln bewirken, während die Mehrheit der Studierenden schweigt”.

Besonders scharf kritisiert wird auch in diesem Artikel des “Tagesanzeigers”, dass bei diesen Protestaktionen immer wieder “antisemitische Äusserungen” zu hören seien, insbesondere die Parole “From the river to the sea, Palestine will be free”, welche Israel das Existenzrecht abspreche. Fabian Renz spricht in einem speziellen redaktionellen Kommentar sogar von einem “trivialen Weltbild der Israelhasser”. Auch er fordert, “offen antisemitische Slogans” wie die von ihm als “Schlachtruf” bezeichnete Parole “From the river to the sea” seien “entschieden abzuklemmen”, denn sie seien “Auswuchs eines Denkens, das den Israelis die alleinige Schuld für sämtliche Bluttaten im Nahen Osten aufbürdet und damit den kompliziertesten Konflikt der Welt in das antagonistisch-triviale Schema eines Hollywood-Blockbusters zwängt: da die Schurken, dort die unterdrückten Freiheitskämpfer.”

Haben all die Gelehrten, welche diese propalästinensischen Proteste so einhellig verurteilen, und all die Journalisten, die ebenso einhellig ins gleiche Horn blasen, eigentlich, bevor sie diese Stellungnahmen geschrieben haben, nie ein Geschichtsbuch gelesen über die Hintergründe und die Ursachen des seit über sieben Jahrzehnten schwelenden Nahostkonflikts? Und haben sie nicht zur Kenntnis genommen, dass die allermeisten Palästinenserinnen und Palästinenser und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten ganz und gar nicht diesen Slogan vom “Fluss” und vom “Meer” so interpretieren wie sie? Lesen die Journalisten des “Tagesanzeigers” nicht einmal ihre eigene Zeitung? Dort nämlich sagte Ruth Dreifuss, die ehemalige Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln, am 26. Januar 2024 Folgendes: “Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Dies bedeutet nichts anderes als die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.” Also das pure Gegenteil dessen, was immer wieder behauptet wird. Aber es ist eben, wie schon Abraham Lincoln wusste, „leichter, eine Lüge zu glauben, die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur einmal hört.“

Aber das Ganze ist sogar noch viel verrückter. Denn eigentlich trifft genau diese Parole, betrachtet man sie von der anderen Seite her, nämlich der jüdisch-israelischen, in weitaus gravierenderem Ausmass tatsächlich ins Schwarze. “De facto”, so Amira Hass, jüdische Historikerin und Journalistin, “dehnte der Staat Israel seit seiner Gründung seine Souveränität kontinuierlich vom Mittelmeer bis zum Jordan aus.” Bereits 1938, zehn Jahre vor der Gründung des Staates Israel, sagte der spätere Staatsgründer David Ben Gurion: “Ich bin für die Zwangsumsiedlung der arabischen Bevölkerung und sehe darin nichts Unmenschliches.” Ab 1948 wurde die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas von den Juden vertrieben und die Hälfte ihrer Dörfer und Städte zerstört. “Und doch”, so Ilan Pappe in seinem Buch “Die ethnische Säuberung Palästinas”, wurde dieses Verbrechen nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt. Man stelle sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Dörfer und Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht würden. Man stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche diplomatische Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig ausser Acht lassen.” Im sogenannten “Plan Dalet” vom 10. März 1948 ist wortwörtlich zu lesen: “Die Operationen gegen die arabischen Siedlungen lassen sich entweder durch Zerstörung von Dörfern durchführen, indem man sie in Brand steckt, sprengt und die Trümmer vermint, oder durch Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen hinaus zu vertreiben.” Eine palästinensische Mehrheit im Land, so Ben Gurion, würde “jüdische Siedler zwingen, Gewalt anzuwenden, um den Traum eines rein jüdischen Palästina zu verwirklichen”. Gemäss Angaben des “Badil Resource Centers” wurden 1948 in den Gebieten, aus denen der Staat Israel hervorging, 85 Prozent der ansässigen Palästinenserinnen und Palästinenser zu Flüchtlingen.

Die “Vision” eines rein jüdischen Palästina ist in der Tradition der israelischen Staatsgründer bis heute ungebrochen. Im September 2023 präsentierte der israelische Premierminister Netanyahu anlässlich einer Sitzung der UN-Vollversammlung eine Landkarte Israels, auf der sämtliche palästinensische Gebiete Israel zugerechnet wurden. Der israelische General Giova Eiland meinte in einem Zeitungsinterview, Israel habe gar keine andere Wahl, als den Gazastreifen in einen Ort zu verwandeln, an dem es “vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist, zu leben”. Und Nir Barkat, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, liess verlauten, Israel werde die Palästinenser “vom Angesicht der Erde tilgen”.

Was all jene, die der Parole “From the river to the see, Palestine will be free” unterstellen, nämlich, dass diese auf eine Vernichtung des israelischen Staates abziele, ist das, was man in der Psychologie eine “Projektion” nennt, klassischer geht es nicht: Das, was die israelische Regierung und ihre Sympathisanten der palästinensischen Seite vorwerfen, ist genau das, was sie selber tun, buchstäblich vom Meer bis zum Fluss, aber nicht bloss mutmasslich, sondern ganz real und mit Zehntausenden unschuldiger Opfer. Die Täter-Opfer-Umkehr dient einzig und allein der Rechtfertigung der von Israel selber begangenen Verbrechen. Und wenn der Kommentator des “Tagesanzeigers” schreibt, es handle sich beim Zwist zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung um den “kompliziertesten Konflikt der Welt”, so ist auch das eine ans schier Unfassbare grenzende Verdrehung der Tatsachen und will offensichtlich bloss bezwecken, den Propalästina-Protesten jegliche Legitimation unter den Füssen wegzuziehen. Tatsächlich ist es nichts “Kompliziertes”, sondern etwas zutiefst erschreckend “Einfaches”: Rassismus und Völkervernichtung in ihrer extremsten, aller minimalster Humanität spottenden Ausprägung, durch keine noch so weit hergeholte “Begründung” oder Verharmlosung jemals zu rechtfertigen. Wenn Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in der Schweiz, in einem Interview mit der Gratiszeitung “20minuten” vom 8. Mai sagt, Israel werde beim geplanten Angriff auf Rafah “sehr sorgfältig vorgehen”, und sie zudem die Behauptung aufstellt, weltweit “kein anderes Land” zu kennen, das die betroffene Zivilbevölkerung dermassen umfassend “vorab informiere”, um sie zu “schützen”, dann kann man sich nur wundern, weshalb nicht schon längst die ganze Welt aufgestanden ist und vor allem auch die offizielle Schweiz, die sich stets auf ihre humanitäre Tradition beruft, zu alledem immer noch schweigt und sich damit mitverantwortlich macht für eines der grössten Verbrechen, das zurzeit auf diesem Planeten im Gange ist.

Wenn selbst die Präsidentin der Schweizer Hochschulen, die doch geradezu dazu prädestiniert sein müssten, ein Hort der Wissenschaften und der Aufklärung zu sein, von der Gefahr einer “Instrumentalisierung der Studierenden” spricht und die Rolle der Hochschulen als eine rein “akademische”, “nachdenkende”, “verstehende”, aber explizit “nicht politische” definiert, und wenn das Wichtigste, was der “Tagesanzeiger” auf seiner Titelseite verkündet, darin besteht, dass die Proteste “im Keim erstickt” worden seien, dann muss die Angst dieser “Machtträger” davor, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte, schon unermesslich gross sein. Nicht im Aufdecken der Wahrheit, nicht in der mutigen Parteinahme für die Menschlichkeit scheinen diese unsere “Eliten” ihre Aufgabe zu sehen, sondern offensichtlich genau im Gegenteil: im Verschweigen, im Rechtfertigen, im Verharmlosen, in der Unterdrückung all dessen, was über Jahrzehnte hinweg geglaubte “Wahrheiten” in Frage stellen und die über so lange Zeit aufgebauten Weltbilder ins Wanken bringen könnte. Doch für immer lässt sich die Wahrheit auch mit noch so vielen Lügen, Geschichtsverfälschungen, Hausverboten und Polizisten nicht unter dem Deckel halten. Irgendwann, früher oder später, wird sie ans Tageslicht gelangen. Und dann wird aller Voraussicht nach eine ganze andere Geschichte geschrieben werden als die, welche wir heute in unseren Zeitungen lesen und die uns als alleinige “Wahrheit” verkauft wird. Denn “man kann zwar”, so Abraham Lincoln, “dem ganzen Volk die Wahrheit eine Zeitlang vorenthalten, auch einem Teil des Volkes die ganze Zeit, aber nicht dem ganzen Volk die ganze Zeit.”

Nachtrag am 20. Mai 2024: Ich habe diesen Text in gekürzter Form am 10. Mai als Leserbrief an den “Tagesanzeiger” geschickt. Bis heute ist er nicht publiziert worden.

Nachtrag am 23. Mai 2024: Auf meine Nachfrage, weshalb der Leserbrief nicht veröffentlicht wurde, habe ich heute von der Leserbriefredaktion des “Tagesanzeigers” die Antwort bekommen, er hätte aus “Platzgründen” nicht berücksichtigt werden können. Meine Rückmeldung an die Leserbriefredaktion: “Den Leserbrief hätte ich wichtig gefunden. Nicht weil er von mir geschrieben wurde. Sondern weil er eine andere mögliche Interpretation des Slogans FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE aufgezeigt hätte, notabene immerhin von einer ehemaligen Schweizer Bundesrätin. Es wäre ein notwendiges Korrektiv gewesen zu der in zahlreichen TA-Artikeln wiederholten Interpretation des Slogans, wonach er Israel das Existenzrecht abspreche. Wie können sich die Leserinnen und Leser ein objektives Bild machen, wenn sie nur die eine Seite der Wahrheit hören? Übrigens vertreten von den zwei Palästinensern, die ich persönlich kenne und die heute in der Schweiz leben, beide dezidiert die von Ruth Dreifuss geäusserte Interpretation. Wenn Sie schreiben, dass der Leserbrief aus Platzgründen nicht veröffentlicht werden konnte, dann frage ich mich, weshalb es in einer Zeit so vieler Konflikte und weltweit so existenzieller Fragestellungen immer wieder TA-Ausgaben gibt, in denen nicht ein einziger Leserbrief zu finden ist, und auch in den übrigen Ausgaben die Leserbriefe meist nur wenig Raum einnehmen, während ich mich an Zeiten erinnern kann, da jeweils täglich eine ganze Seite für Leserbriefe zur Verfügung stand. Ist Ihnen die Meinung Ihrer Leserinnen und Leser so wenig wichtig?”