Preisverleihung an renommierte palästinensische Autorin abgesagt – die Begründung: “Antisemitismus”

Eigentlich hätte der preisgekrönte Roman “Eine Nebensache” der palästinensischen Autorin Adania Shibli an der Frankfurter Buchmesse mit dem seit über dreissig Jahren an Autorinnen und Autoren aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt alljährlich verliehenen “LiBeraturpreis” ausgezeichnet werden sollen. Doch nun wurde, wie die “Wochenzeitung” am 19. Oktober 2023 berichtet, die Preisverleihung abgesagt. Die Begründung: Der Autorin wird Antisemitismus vorgeworfen.

Im ersten Teil von “Eine Nebensache” erzählt Adania Shibli die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte eines israelischen Offiziers, der im Jahre 1949 durch die Wüste Negev reiste. Dieser Teil des Romans endet mit der Vergewaltigung und Ermordung eines Beduinenmädchens. Im zweiten Teil des Romans liest eine junge Palästinenserin einen Artikel über diese Begebenheit und will mehr über das ermordete Mädchen erfahren. Sie macht sich auf den Weg von Ramallah in die Wüste, in einem gemieteten Auto und mit einem von einer Kollegin ausgeliehenen israelischen Ausweis, der ihr Zugang zu jenen Zonen ermöglicht, die ihr mit ihren eigenen Papieren versperrt geblieben wären. Begleitet von Angst, passiert sie die Grenzposten, fährt durch die Hitze und sucht in Museen und Archiven nach Antworten.

Dies war den Verleihern des “LiBeraturpreises” offensichtlich zu viel des Bösen, sprich: des “Antisemitismus”. Adania Shibli wird den Preis nicht bekommen. Und dies, obwohl das Buch bei seiner Ersterscheinung in Englisch im Jahre 2020 in die Endauswahl für den US-Literaturpreis National Book Award sowie ein Jahr später auf die Longlist des internationalen Booker Prize gekommen war und bei seiner Erscheinung in Deutsch im Frühling 2022 von der deutschsprachigen Kritik als ein Meisterwerk gefeiert wurde. “Inmitten der lauten und polarisierenden Stimmen, die den Nahostkonflikt umgeben”, schrieb die “Süddeutsche Zeitung” damals, “ist Shibli eine leise, eine suchende, eine präzise Detailbeobachterin.”

Anlass genug, um sich mit dem Begriff des “Antisemitismus” etwas näher auseinanderzusetzen. “Antisemitismus” ist untrennbar verbunden mit der Erfahrung des Holocausts, der planmässigen Vernichtung von über sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten zwischen 1938 und 1945, einem der fraglos grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Im Klartext: Wer immer sich gegenüber Angehörigen des jüdischen Volks negativ oder abwertend äussert, greife somit, ausgehend von diesem Geschichtsbild, auf die gleichen Denkmuster zurück, welche damals zur Verfolgung und Vernichtung eines grossen Teils des jüdischen Volkes geführt hätten. Doch mehr als das: Auch wer an der heutigen israelischen Regierung und ihrer Politik Kritik übt, sieht sich schnell einmal mit dem Vorwurf des “Antisemitismus” konfrontiert. Denn schliesslich, so die entsprechende Argumentation, sei der Staat Israel nichts anderes als die endlich Wirklichkeit gewordene Heimat eines Volkes, das über Jahrhunderte hinweg nicht nur in Europa, sondern auch weltweit als Minderheit immer wieder grausamster Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt gewesen war. Und so wird der “Schutzschild”, mit dem die Opfer des Holocausts und ihre Nachkommen von weiterer Diskriminierung, Ausgrenzung oder gar Verfolgung geschützt werden sollen, gleichzeitig auch zum Schutzschild eines modernen Staatsgebildes, das aus dieser Geschichte hervorgegangen ist. Wer es wagt, am heutigen Staat Israel Kritik zu üben – so wie es gerade in diesen Tagen unter anderem die bekannte Klimaaktivistin Greta Thunberg gewagt hat -, setzt sich damit automatisch dem Vorwurf des “Antisemitismus” aus, selbst wenn dieser Staat seit seiner Gründung seinerseits einem anderen Volk, nämlich dem palästinensischen, genau jenes Recht auf Autonomie, Selbstbestimmung und die Bildung eines eigenen Staates verweigert, das er für sich selber so selbstverständlich in Anspruch nimmt.

Es ist geschichtlich nachvollziehbar, dass Jüdinnen und Juden auf alles, was in Richtung “Antisemitismus” gehen könnte, überaus sensibel reagieren. Doch müssten die gleichen Massstäbe eigentlich auch gegenüber allen anderen Menschen, Völkern und Kulturen gelten. Respekt, Toleranz, Menschenwürde, Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung sind universelle Werte. Als amerikanische Bomberpiloten anfangs 1991 Scharen flüchtender irakischer Soldaten vor sich hertrieben, verglichen sie diese mit “Fliegen”. Im US-Militärgefängnis von Guantanamo mussten irakische Häftlinge, nachdem sie beinahe zu Tode gefoltert worden waren, vor den Augen sich belustigender Gefängniswärter Kunststücke aufführen und sich dabei wie Zirkustiere gebärden. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan durfte in seinem Buch “Himmel über Charkiw” sämtliche Russen als “Schweine”, “Hunde”, “Verbrecher”, “Tiere”, “Unrat” und “Barbaren” bezeichnen, die “in der Hölle brennen sollen” – und wurde dafür erst noch mit dem Friedenspreis 2022 des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant bezeichnete vor wenigen Tagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens als “Hunde”, und genau so, sagte er, müsse man sie auch behandeln. Der israelische Finanzminister Belazel Smotrich stellte die Behauptung auf, es gäbe gar kein palästinensisches Volk. Und in der Schweiz wurden über viele Jahre Menschen aus Italien als “Tschinggen” und Menschen aus dem Balkan als “Jugos” bezeichnet und dies stets mit einem negativen, diskriminierenden, ausgrenzenden Beiklang, obwohl die schweizerische Wirtschaft existenziell auf die Arbeitskräfte aus diesen Ländern angewiesen war. Ist das alles weniger schlimm als das, was man unter “Antisemitismus” versteht?

“Antisemitismus” ist eines dieser Reiz- oder Signalwörter, die in der heute so aufgeheizten und polarisierten Weltlage nur allzu schnell instrumentalisiert werden, um “Freunde” und “Feinde” möglichst klar voneinander zu unterscheiden und jeden zwischenmenschlichen Dialog schon zum Vornherein zu verunmöglichen. Umso wichtiger ist es, solche Begriffe, die man sich mittlerweile gegenseitig wie Waffen um die Köpfe schlägt, immer wieder kritisch zu hinterfragen. Um auf diese Weise vielleicht neue Wege aufzuspüren, welche die Menschen nicht immer weiter gegenseitig auseinandertreiben, sondern, im Gegenteil, eines Tages, wenn sich erst einmal alle diese Feindbilder aufgelöst haben, wieder zusammenbringen.