Postangestellte im Dauerstress: Als wären es Hochleistungssportler

 

23,3 Prozent mehr Pakete, so meldet der “Tages-Anzeiger” am 22. Februar 2021, hat die Post 2020 im Vergleich zum Vorjahr ausgeteilt. Und da sind die Pakete, welche von privaten Zustellern wie UPS, DPD und DHL transportiert werden, noch nicht einmal mitgezählt. Doch nicht nur die Zahl der Pakete hat zugenommen, sondern auch die Grösse und das Gewicht. Zunehmend werden Elektrogeräte und Möbelstücke bestellt, ganze Batterien von Weinflaschen, Sportgeräte wie Hanteln und vieles mehr. Das bleibt nicht ohne körperliche Auswirkungen auf die Paketzusteller: Immer mehr von ihnen leiden insbesondere unter Rücken- und Kreuzschmerzen. “Ich habe mich kürzlich an einem Hantelpaket verhoben und hätte wohl eigentlich eine Pause einlegen sollen”, berichtet einer von ihnen, “doch ich war dermassen unter Zeitdruck, dass das einfach nicht drin lag.” Ein anderer berichtet, er schleppe regelmässig Pakete, die über der Suva-Grenze von 25 Kilogramm lägen, so hätte er zum Beispiel einmal ein Paket von 43 Kilogramm zustellen müssen. Es gibt zwar gewisse Hilfsmittel wie zum Beispiel Handwagen, doch der Zeitdruck, dem nicht nur die Mitarbeitenden der Post, sondern vor allem auch jene der privaten Anbieter ausgesetzt sind, ist so gross, dass diese Hilfsmittel nicht immer zum Einsatz kommen. Es stellt sich dann die Frage: “Mache ich heute lieber nur zwei Stunden Überzeit, die oft sowieso nicht bezahlt wird, und mache mir so den Rücken kaputt, oder arbeite ich drei Stunden mehr und schone dafür meinen Körper?” Während die Post wenigstens einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt ist, herrscht bei den privaten Anbietern der reinste Wildwuchs: Unbezahlte Überstunden sind hier die Regel. Am schlimmsten geht es jenen Angestellten, die über Subunternehmen bei der DPD angestellt sind. Die Liste der Klagen von Betroffenen ist lang und reicht von Unregelmässigkeiten bei Löhnen, Spesen, Arbeitszeiten, Nachtarbeit bis zu Überwachung, Gesundheitsschutz, Fahrzeugsicherheit und Verletzung von Gewerkschaftsrechten. – Welcher Teufel hat eigentlich die politisch Verantwortlichen angetrieben, welche am 1. Januar 1998 den damaligen Staatsbetrieb der PTT zerschlagen haben und dem liberalisierten Wildwuchs, der sich seither entwickelt hat, Tür und Tor geöffnet haben? Vorher bildeten die Mitarbeitenden der Postbetriebe eine Gemeinschaft, zusammengehalten von gleichen Rechten und Sicherheiten für alle. Heute finden sie sich wieder auf dem Schlachtfeld eines gegenseitigen Konkurrenzkampfs, und sind unerbittlichem Zeitdruck um Tausendstelsekunden unterworfen, als handle es sich um Hochleistungssportler. Da mutet das aktuelle Angebot der Post, Mitarbeitenden die Gelegenheit zu Massagen, zu Physiotherapie und zum Zugang zu Krafträumen zu ermöglichen, geradezu lächerlich an. Besser würden sie sich darum kümmern, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die körperlichen Probleme schon gar nicht erst auftreten. Aber eben, das geht ja nicht, denn wenn der eine Anbieter gegenüber seinen Angestellten nur ein bisschen grosszügiger ist als die anderen, verliert er sogleich einen Teil seiner Kundschaft an diese – ein Teufelskreis, in dem immer jener die Oberhand hat, der aus seinen Angestellten am meisten herauspresst und ihnen die wenigsten Rechte und Sicherheiten zubilligt. Es wird zwar oft gesagt, man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Doch was spricht dagegen, aus gemachten Fehlern zu lernen und noch einmal an den Punkt zurückzukehren, an dem das ganze Unheil begonnen hat? Schliesslich hat es die britische Regierung auch geschafft, die Privatisierung der Eisenbahn rückgängig zu machen, als sich erwiesen hatte, dass es an allen Ecken und Enden nicht funktionierte. Kaum vorzustellen, was für ein Segen das wäre: Post, UPS, DPD und DHL würden sich zu einem staatlichen Monopolbetrieb zusammenschliessen mit gleichen Rechten, Schutz, Sicherheit und Arbeitsbedingungen für alle. Im Gleichschritt mit der wachsenden Zahl von Paketen würde auch die Zahl der Angestellten schrittweise erhöht, was in Anbetracht der grossen Zahl Stellenloser kein Problem sein dürfte. Kein einziger Mitarbeiter müsste alleine und ohne Hilfe Pakete mit einem Gewicht von 30 oder 40 Kilogramm aus seinem Fahrzeug stemmen und möglicherweise noch mehrere Stockwerke hochtragen – immer sässe auf dem Fahrzeug ein weiterer Mitarbeiter und jeder von den beiden trüge nur die halbe Last. Überstunden gäbe es auch keine mehr, denn der Personalbestand würde eben laufend den Anforderungen der Kundschaft angepasst und wenn ein Paket halt mal statt heute erst morgen ausgeliefert würde, bräche ja deswegen auch nicht die Welt zusammen. Das ist die Grundfrage: Lassen wir es weiterhin zu, dass bloss Firmenleitungen, Konzernchefs und Aktionäre jene Entscheide fällen, die dann in letzter Konsequenz die an der Basis tagtäglich arbeitenden Menschen betreffen, oder müssten wir nicht Verhältnisse schaffen, in denen jene, die an der Basis arbeiten, auch selber darüber entscheiden, welches die Bedingungen dieser von ihnen verrichteten Arbeit sein sollen. Hierzu braucht es noch viel mehr als Gewerkschaften, die immer nur punktuelle einzelne kleine Verbesserungen erstreiten können. Es braucht ein neues Denken. Eine neue Philosophie. Eine neue Kultur, um aus gemachten Fehlern zu lernen und damit die Chance zu eröffnen, es in Zukunft besser zu machen.