Pazifismus sei “aus der Zeit gefallen” – und was sonst noch alles?

 

In seiner Rede vor dem deutschen Gewerkschaftsbund sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sei, der sei “aus der Zeit gefallen”. Seither wird der Ausdruck nachgerade inflationär verwendet. Doch was heisst eigentlich “aus der Zeit gefallen”? Heisst es zum Beispiel auch, der Pazifismus sei “aus der Zeit gefallen”? Und was ist mit den Gewerkschaften, wenn sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne fordern, sind die dann auch “aus der Zeit gefallen”? Und die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die sich auf der Strasse festkleben, um gegen den stetig wachsenden Autoverkehr zu protestieren, müssten sie sich ebenso diesen Vorwurf gefallen lassen? In der Tat. Mit einer solchen Worthülse kann man alles und gleichzeitig auch nichts rechtfertigen. Es ist nichts anderes als eine Waffe in der Hand der Mächtigen, um Widerspenstige und Andersdenkende gefügig zu machen, indem man ihnen vorwirft, “ewiggestrig” zu sein und den Schritt in eine neue, andere Zeit verpasst zu haben. Nichts an dieser Worthülse ist moralisch oder ethisch begründet – sie könnte ebenso gut auch von einem skrupellosen Diktator verwendet werden, der damit seine Widersacherinnen und Widersacher in die Schranken zu weisen versucht, indem er ihnen vorwirft, aus der Zeit – nämlich aus der Zeit der von ihm etablierten Schreckensherrschaft – gefallen zu sein. Die Beliebigkeit, die der Worthülse innewohnt, zeigt, dass uns allgemein gütige ethische Normen, auf die sich alle berufen können, offensichtlich abhanden gekommen sind. Krieg ist ebenso möglich wie Frieden, Gerechtigkeit ebenso wie Ungerechtigkeit, Reichtum ebenso wie Armut – nur eben alles zur richtigen Zeit. Wer die Zeit auf seiner Seite hat, muss das, was er tut, nicht mehr rechtfertigen, denn er tut ja bloss das, was die Zeit von ihm verlangt. So wie die Grünen, welche sich in ihrem Wahlkampf noch vehement gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatten und jetzt, ein halbes Jahr später, an vorderster Front sogar für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine einstehen. Doch diese Wechselbäder, diese Beliebigkeiten, diese Austauschbarkeiten werden uns nichts Gutes bringen. So “konservativ” es auch klingen mag: Wir brauchen wieder verbindliche Werte, auf denen sich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheide und Abläufe abstützen lassen. Der Begriff “Religion” mag vielen suspekt sein, weil es im Namen der Religionen im Laufe der Geschichte viel zu viel Missbrauch, Gewalt und Zerstörungen gegeben hat. Aber alles hat auch eine gute Seite. Nennen sich die meisten von uns nicht immer noch “Christinnen” und “Christen”, ist nicht immer noch von “christlicher Kultur” die Rede? Wäre nicht das zentrale Gebot der christlichen Glaubenslehre, nämlich die Nächstenliebe, genau das, was wir heute dringender denn je bräuchten? Die Bibel unterscheidet zwei Formen der Liebe: Das eine ist der “Eros”, das andere ist die “Agape”. Versteht man unter “Eros” die leidenschaftliche, stürmische und brennende Liebe zwischen zwei Menschen, so handelt es sich bei “Agape” um bedingungslose Liebe auf universeller Ebene, welche auch die Feindesliebe mit einschliesst. Dass dies nicht bloss eine “Idee” der christlichen Tradition ist, sondern auch in den meisten anderen Religionen und Kulturen eine zentrale Rolle spielt, zeigt beispielsweise folgendes Wort des griechischen Philosophen Epiktet aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung: “Die Liebe zu den Menschen ist Pflicht, sind wir doch alle Kinder desselben Gottes.” Dass Agape, die universelle Nächstenliebe, nicht bloss etwas für die eigenen vier Wände sein, sondern weit darüber hinaus Wirkung zeigen sollte, war auch für den norwegischen Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen klar: “Nächstenliebe ist die einzige mögliche Realpolitik.” Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sah das genau gleich: “Die Liebe auch zu unseren Feinden ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen.” Ja. Wer nicht “aus der Zeit fallen” will, macht es sich allzu einfach. Alles wird beliebig, alles ist möglich, es gibt keinen moralisch-ethischen Boden mehr unter den Füssen, nichts, was uns verbindet und uns hilft, vom Gleichen zu sprechen auch dann, wenn wir verschiedener Meinung sind. Die Suche nach Agape, der Nächstenliebe, wäre ein hoffnungsvoller Anfang. Sie würde die Dinge wieder in einen Zusammenhang bringen, der sinnvolles politisches Handeln möglich machen würde. Die Agape, ernst genommen, lässt nicht zu, dass eine Minderheit in Reichtum schwelgt, während Abermillionen von Menschen hungern. Agape lässt nicht zu, dass sich Menschen und Völker gegenseitig umbringen und ihre Dörfer und Städte zerstören, nur weil sie territoriale oder andere Konflikte haben, die sich auch mit friedlichen Mitteln lösen liessen. Und Agape lässt ebenfalls nicht zu, dass Natur, Klima und Umwelt dermassen ausgeplündert, belastet und zerstört werden, dass für nachkommende Generationen nichts mehr übrigbleibt. “Wenn die Menschen einander verstünden und Liebe hätten zueinander”, schrieb der Schweizer Erzähler Jeremias Gotthelf vor rund 200 Jahren, “dann hätte man den ganzen Irrgarten von Gesetzen nicht mehr nötig, worin man je länger je weniger weiss, wo man ist und wo der Ausweg ist und alles je länger je mehr durcheinander ist.” Ja, vielleicht ist ja Agape genau das, was übrig bleibt, wenn alles andere “aus der Zeit gefallen” ist…