Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung…

 

Anlässlich eines Treffens mit Parteifreunden im appenzellischen Bühler äusserte sich gemäss “Tagblatt” vom 15. August 2022 SVP-Bundesrat Ueli Maurer unter anderem auch zum Ukrainekonflikt. Maurer bezeichnete diesen als “Stellvertreterkrieg zwischen Westen und Osten”, es sei ein “Kampf um Machtansprüche”, der “auf dem Buckel der Ukraine” ausgetragen werde. Bereits haben sich Vertreter mehrerer Parteien von den Aussagen Maurers distanziert und betont, im Falle des Ukrainekrieges gehe es um nichts anderes als die “militärische Aggression” Russlands gegen ein demokratisches, souveränes Nachbarland. Diese Meinung herrscht auch in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht nur in der Schweiz, sondern in den meisten westlichen Ländern vor. 

Waren die Äusserungen Ueli Maurers also falsch? Keineswegs. All jene, die ihm widersprechen, scheinen sich offensichtlich nicht daran zu erinnern, dass führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 Russland gegenüber die Zusicherung abgegeben hatten, die NATO keinesfalls in Richtung Osten zu erweitern – eine Zusicherung, die der Westen dutzendfach gebrochen hat, indem eines ums andere Land in die NATO aufgenommen wurde bis hin an die russische Grenze. Offensichtlich haben sich all jene, für die der Alleinschuldige im Kreml sitzt, auch noch nie das Gegenteil vorzustellen versucht, nämlich, dass sich Mexiko und Kanada mit Russland verbünden würden und dort Atomraketen aufgestellt würden, die gegen die USA ausgerichtet wären, was die USA zweifellos kaum so mir nichts dir nichts hinnehmen würden. Auch will kaum je irgendwer etwas wissen von den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan anfangs 2014, als die damalige russlandfreundliche Regierung gestürzt und durch eine US-freundliche Regierung ersetzt wurde, wobei mutmasslich der CIA eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheint. Auch scheinen viele noch nie etwas gehört zu haben von den geostrategischen Überlegungen sowohl des ehemaligen US-Aussenministers Kissinger wie auch des Sicherheitsberaters Brzezinski, die beide in der Ukraine einen gefährlichen Zankapfel zwischen östlichen und westlichen Machtinteressen sahen und deshalb einen möglichst unabhängigen, blockfreien Status dieses Landes forderten. Auch wird von den westlichen “Hardlinern” gerne übersehen, dass die NATO über ein zwanzig Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland und dass Russland buchstäblich von allen Seiten her von US-Militärstützpunkten umzingelt ist, während man russische Stützpunkte global schon fast an zwei Händen abzählen kann. Schliesslich scheint auch viel zu wenig bekannt zu sein, dass sich mittlerweile 17 Millionen Hektar ukrainischer Agrarfläche im Besitz der multinationalen Agrarkonzerne Monsanto, Cargill und DuPont befinden, eine Fläche, die grösser ist als die gesamte Agrarfläche Italiens, und dies in einem Land, welches traditionell als wichtige Kornkammer Russlands diente.

Den Blick zu öffnen auf den Konflikt und seine Hintergründe als Ganzes heisst nicht, den militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Jeder kriegerische Akt ist zu verurteilen, egal von welcher Seite er verübt wird. Das gängige Schwarzweissbild zu durchbrechen und gegenseitige Feindbilder zu hinterfragen und abzubauen, kann aber im besten Falle dazu beitragen, den Konflikt zu entschärfen. Was wir heute dringend brauchen, sind keine Scharfmacher und Kriegstreiber. Was wir heute brauchen, sind Politikerinnen und Politiker, die das Augenmass nicht verlieren und unbeirrt für das Gespräch, für den Dialog und für den Frieden einstehen. “Lieber hundert Stunden ergebnislos verhandeln”, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, “als eine Minute lang schiessen.” Man mag eine solche Haltung als naiv abtun. Aber unvergleichlich viel naiver ist es, daran zu glauben, auf kriegerische Weise einen Konflikt lösen zu können auf eine Art und Weise, dass daraus eine tragbare Lösung für alle Seiten entsteht. Pazifismus ist nach wie vor die einzige realistische und vernünftige Haltung, gegenüber nicht nur diesem, sondern ganz allgemein jedem Krieg. Es muss zu denken geben, dass pazifistische Gruppierungen und Bewegungen in Zeiten des Friedens viel grösseren Zulauf gehabt haben als in der heutigen kriegerischen Zeit und dass sich viele einst pazifistisch geprägte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens inzwischen vom Pazifismus losgesagt und distanziert haben. Pazifismus darf keine Modeerscheinung zu sein. Wenn er in friedlichen Zeiten wichtig ist, dann ist er in kriegerischen Zeiten noch unvergleichlich viel unverzichtbarer. Und vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass Pazifismus auch ansteckend sein kann. So wie Kriegsparolen der einen Seite meist zur Folge haben, dass sich auch die Kriegsparolen auf der anderen Seite verstärken, und so wie militärische Aufrüstung auf der einen Seite noch grössere Aufrüstung auf der anderen Seite bewirkt, so ist eben auch das Gegenteil möglich: dass Pazifismus, Friedensliebe und Abrüstung auf der einen Seite zu ähnlichen Bewegungen auf der anderen Seite führen. Dass dies keine Illusion ist, sondern durchaus eine realistische Haltung, lässt sich damit begründen, dass selbst jene Menschen, die am lautesten nach Krieg, Rache und Vergeltung schreien, dennoch in ihrem Innersten die unauslöschliche Sehnsucht nach einer Welt in Frieden und Gerechtigkeit tragen.

SVP-Bundesrat Ueli Maurer warnte anlässlich seines Treffens mit Parteifreunden in Bühler davor, es könnte schon in wenigen Wochen zu einem atomaren Weltkrieg kommen. Es ist kein Tag zu früh, um dem Pazifismus nicht nur dort, wo gerade ein kriegerischer Konflikt im Gange ist, sondern auch weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Denn, wie schon US-Präsident John F. Kennedy sagte: “Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.”