Omicron: Höchste Zeit für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit…

 

In den Bäuchen finsterer, stickiger Schiffe voller Exkremente, eng aneinander gekettet, ohne sich bewegen zu können, wie Tiere, wurden sie aus ihrer afrikanischen Heimat nach Amerika verfrachtet und dort auf Feldern, Plantagen und in Bergwerken zur Zwangsarbeit verdammt, 12 Millionen Männer und Frauen im Laufe dreier Jahrhunderte, eines der grössten Verbrechen aller Zeiten. Wer denkt schon angesichts des heutigen Reichtums der europäischen Länder daran, dass genau dies, nämlich die von den damaligen europäischen Handelshäusern mit dem Sklavenhandel erzielten Profite, die Grundlage bilden sollte für den späteren Reichtum Europas? Doch das war erst der Anfang. Später begann der grosse Raubzug erst Recht. Niemand kann die Mengen an Gold, Diamanten, Tropenhölzern, Kakao- und Kaffeebohnen, Bananen, Zuckerrohr und Kautschuk beziffern, die im Laufe der Jahrhunderte von Afrika nach Europa geschafft wurden, Früchte millionenfacher härtester Arbeit unter sengender Sonne zum Wohle jener, die eigentlich schon längst genug reich gewesen wären, aber ganz offensichtlich nie genug davon zu bekommen schienen. Einer der schlimmsten unter ihnen war der belgische König Leopold der Zweite. Unter seiner Regentschaft fanden rund neun Millionen Kongolesen, die Hälfte der damaligen Bevölkerung, in der Zwangsarbeit der Kautschukgewinnung den Tod. Tötungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, besonders berüchtigt waren die belgischen Aufseher, welche jenen Arbeitern, welche das Tagessoll nicht erfüllten, die Hände abhackten. Und so verwandelte sich der ärmste Kontinent der Welt, Europa, im Laufe von fünf Jahrhunderten in den reichsten Kontinent, während der reichste Kontinent der Welt, Afrika, zum ärmsten wurde. Auf tragische Weise findet diese Geschichte dieser Tage ihre tragische Fortsetzung: Europa, reich genug, um sich selbst auf Vorrat für seine ganze Bevölkerung Impfstoff gegen das Coronavirus zu beschaffen, scheint sich wenig um die Menschen jenes Kontinents zu kümmern, der von ihm während so langer Zeit ausgeplündert wurde und dem heute alle Mittel fehlen, seine eigene Bevölkerung medizinisch ausreichend zu versorgen. Beträgt die Impfquote in der EU inzwischen rund 70 Prozent, liegt sie in Afrika bei gerade mal drei Prozent. Der Ausbruch der neuen Omicron-Mutation hat gezeigt, wie gefährlich das ist: Solange in den armen Ländern so wenige Menschen vor einer Infektion geschützt sind, ist die Gefahr gross, dass immer wieder neue Mutationen auftauchen – da kann in den reichen Ländern noch so fleissig geimpft werden, gegen das Auftreten neuer Mutationen nützt das wenig. Fünf Jahrhunderte, in denen der ärmste Kontinent zum reichsten wurde und umgekehrt. Wäre es nicht endlich an der Zeit, ein klein wenig von diesem Verbrechen wieder gut zu machen? Oder verschanzen wir uns weiterhin hinter unseren Mauern der Selbstbehäbigkeit und des unverbesserlichen Irrglaubens, all unseren Wohlstand ganz alleine und redlich verdient zu haben? “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern überleben, oder wir werden als Narren miteinander untergehen.”