Olympische Spiele: Sie nennen es ein “Friedensfest”, tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Und wieder sind der Jubel der einen und die bitteren Tränen der anderen nur um Millimeter und Tausendstelsekunden voneinander entfernt. Soeben sind acht der 55 Teilnehmerinnen des Frauentriathlons, Seite an Seite auf ihren Fahrrädern mit ihren Konkurrentinnen in horrendem Tempo um den Sieg kämpfend, auf dem nassen und glitschigen Boden ausgerutscht und mit voller Wucht knallhart auf dem Kopfsteinpflaster gelandet, ohne Hoffnung, jemals wieder zur Führungsspitze aufschliessen zu können – und schon durchläuft die strahlende Siegerin unter tosendem Applaus des Publikums das Zielband. Und während die weltbeste Turnerin mit einem Sprung, den noch nie zuvor eine ihrer Konkurrentinnen zu meistern vermochte, schon fast im Himmel des Olymps angelangt ist, muss eine andere Wettkämpferin, die als hoffnungsvolle, ehrgeizige junge Boxerin vom genau gleichen Traum der in unendlichem Glück schwimmenden Goldmedaillengewinnerin beseelt war, schon nach wenigen Sekunden aufgeben, weil ihr die Nase von ihrer Gegnerin dermassen brutal zertrümmert wurde und sie nun so benommen ist, dass sie sich beim nächsten noch so harmlosen Treffer ohne Zweifel kaum mehr wird auf den Beinen halten können. Man nennt es ein “Friedensfest”, bei dem sich die weltbesten Athletinnen und Athleten über alle Grenzen hinweg begegnen, um ihre körperlichen Kräfte, ihre Ausdauer, ihre Geschicklichkeit und ihren Mut aneinander zu messen. Tatsächlich aber ist es bloss eine andere Form von Krieg…

Am 26. September 2004 stürzte der belgische Radrennfahrer Tim Pauwels zu Tode, unmittelbar nachdem er einen Herzstillstand erlitten hatte. Am 26. November 2006 starb der Spanier Isaac Gálvez infolge eines Genickbruchs nach einem Sturz im Sechstagerennen von Genf. Am 31. März 2013 kollidierte der Uruguayer Marcélo Gracés bei der Vuelta Ciclista de Uruguay nach einem Lenkerbruch mit einem Begleitmotorrad und verstarb noch bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Am 6. Oktober 2019 verlor der Italiener Giovanni Iannelli, nachdem er mit dem Kopf auf eine Betonplatte geprallt und sein Helm dabei zerbrochen war, das Leben. Am 16. Juni 2023 starb der Schweizer Gino Mäder bei der Tour de Suisse, einen Tag, nachdem er bei der Abfahrt vom Albulapass in eine 20 Meter tiefe Schlucht gestürzt war. Und das sind erst fünf von insgesamt 66 Todesfällen, die allein der Radrennsport in den vergangenen 20 Jahren gefordert hat, zu schweigen von einer noch viel höheren Anzahl von Verletzungen, die zwar nicht zum Tode führten, in vielen Fällen aber lebenslange schwerste Folgen für die Betroffenen hinterlassen haben. Und es ist ja nicht nur der Radrennsport, der so viele Opfer fordert. Auch die Liste von Todesfällen und schwersten Verletzungen in vielen anderen Disziplinen des Spitzensports wie Boxen, Kunstturnen, Tennis, Leichtathletik, Skifahren und vielen anderen wäre ellenlang. Mit Gesundheit hat der heutige Spitzensport auch nicht mehr das Geringste zu tun, eher mit dem Gegenteil…

Doch was treibt Menschen dazu an, solche Strapazen, Qualen, Leiden, Schmerzen, jahrelanges eisernes Training und das permanente Risiko schwerer oder sogar lebensgefährlicher Verletzungen auf sich zu nehmen? Es scheint dahinter so etwas wie eine Art ungeschriebenes Gesetz zu stecken, das man wohl am zutreffendsten als Konkurrenzprinzip bezeichnen könnte: Der Wettbewerb, der Wettkampf, das Feld, auf dem jeder Einzelne alles dafür gibt, besser, schneller, stärker, ausdauernder, mutiger zu sein als alle anderen, diese zu übertreffen, zu überflügeln, auszustechen, um am Ende – The winner takes it all, the loser’s standing small – als Einziger ganz zuoberst auf dem Podest zu stehen, auf alle anderen hinunterschauen zu können und vielleicht sogar in die Geschichte oder das Guinnessbuch der Weltrekorde einzugehen.

Doch ist der Spitzensport bei weitem nicht der einzige Lebensbereich, der von Wettbewerb und Konkurrenzprinzip beherrscht wird. Es beginnt schon in der Schule, beim gegenseitigen Kampf um möglichst gute Noten und die besten Zukunftschancen. Die ganze Arbeitswelt besteht aus nichts anderem als darum, besser und schneller zu sein als andere. Jedes Unternehmen will mehr Gewinn abwerfen und grössere Profite erwirtschaften als alle anderen. Jedes Land will im gegenseitigen Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten möglichst weit oben sein und alle anderen möglichst weit hinter sich zurücklassen. Jede Zeitung will mehr Leserinnen und Leserinnen als alle anderen, jeder Fernsehsender höhere Einschaltquoten als alle anderen, jeder Spielfilm und jede Theaterproduktion mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als alle anderen, jede Flug- und jede Schifffahrtsgesellschaft mehr Passagiere als alle anderen, jeder neue Popstar ein grösseres Publikum und mehr verkaufte Tonträger als alle anderen Popstars je zuvor, jeder Teenager auf Tiktok mehr Smileys und Likes als alle anderen. Alles und jedes wird miteinander verglichen, bewertet, rangiert und ist von früh bis spät und rund um die Welt so sehr von Konkurrenzdenken und Wettbewerb geprägt, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorzustellen vermögen. Tief in uns allen scheint die Überzeugung verankert zu sein, genau dies, der gegenseitige Wettkampf um jeden Preis, entspringe der eigentlichen Natur des Menschen und sei die einzige und beste Art und Weise, um auf allen Lebensgebieten und Arbeitsfeldern dem Menschen die grösstmögliche Verwirklichung seiner Leistungsfähigkeiten und seiner Potenziale abzugewinnen.

Doch es ist nur jahrhundertelange Gewöhnung und weil wir nichts anderes kennen. Tatsächlich aber ist das Konkurrenzprinzip um jeden Preis so ziemlich das Absurdeste und Lebensfeindlichste, was man sich nur vorstellen kann. Denn es beruht auf einer fatalen Illusion, auf einer grandiosen Lüge, und nur weil alle diese Lüge für die Wahrheit halten, kann es weiterhin und in immer bedrohlicherem Ausmass sein Unwesen treiben.

Es ist die Illusion und die Lüge, dass alle zu allem fähig sind, wenn sie sich nur genug anstrengen, nur genug hart an sich arbeiten, nur genug Opfer erbringen, nur auf genug vieles verzichten. Denn jeder und jede, so wird es schon den kleinen Kindern erzählt, könne eines Tages ganz oben auf dem Podium stehen, es sei alles nur eine Frage des Willens und der richtigen Einstellung. Und so wie kleine Kinder an Märchen glauben, so glauben sie auch an dieses Märchen und beginnen davon zu träumen, selber eines Tages ein Prinz oder eine Prinzessin zu sein, der reichste und erfolgreichste Mensch der Welt – oder eben, als Gewinnerin oder Gewinner einer Goldmedaille in die Geschichte einzugehen. Und so sind dann auch allzu viele von ihnen bereit, ihre ganze Kindheit und Jugendzeit diesem Ziel zu opfern, schon im Alter von sechs Jahren um fünf Uhr morgens im kalten Wasser des Hallenbads als zukünftige Synchronschwimmerinnen Ausdauerübungen über sich ergehen zu lassen, bis ihnen fast die Luft ausgeht, sich als zukünftige Kunstturnerinnen und Kunstturner von ihren Trainern jede noch so herablassende Beschimpfung und Beleidigung gefallen zu lassen oder als zukünftige Fussballstars erbarmungslos über das Spielfeld hin und her gejagt zu werden, bis ihnen fast der Schnauf ausgeht.

Die Wahrheit ist, dass eben nicht alle alles erreichen können, selbst wenn sie sich bis zur totalen Selbstaufgabe anstrengen würden. Denn das Konkurrenzprinzip beruht darauf, dass ein jeder Sieg und ein jeder Erfolg des einen nur möglich wird durch die Niederlage und den Misserfolg eines anderen. Dass jedes Glücksgefühl der einen nur entstehen kann aus den Tränen, den Schmerzen und den Enttäuschungen vieler anderer. Dass die einen nur deshalb in der Sonne stehen können, weil sie es geschafft haben, alle anderen in den Schatten zu verdrängen. Dass die Siegerin nur deshalb ganz zuoberst auf dem höchsten Podest stehen kann, weil alle anderen nicht dort oben stehen. Dass einige wenige eben nur deshalb ihre Lebensträume verwirklichen können, weil unzählige andere dazu verdammt sind, sie für immer aufzugeben, auch wenn sie alles Menschenmögliche gegeben und sich mehr angestrengt haben, als sie es jemals für möglich gehalten hätten.

Auch in der Schule, wo jede gute Note nur deshalb eine gute Note ist, weil alle anderen schlechter sind. Auch in dem Modegeschäft, wo die Chefin jeweils am Ende des Monats eine Rangliste aufhängt, auf der ihre Mitarbeiterinnen gemäss des in diesem Monat erzielten Umsatzes abgestuft aufgeführt sind – verbunden mit dem stillen Vorwurf an die Letzte, sie hätte sich wohl einmal mehr viel zu wenig Mühe gegeben. Auch in der Gastronomie, im Tourismus, im Detailhandel, bei den Handwerksbetrieben: Erzielen die einen von ihnen bessere Monats- oder Jahresabschlüsse als in der entsprechenden Vorjahresperiode, dann geht das nur, wenn andere Betriebe im gleichen Zeitraum schlechtere Ergebnisse eingefahren haben. Doch solange die Lüge aufrecht erhalten bleibt, wonach alle alles erreichen können, wenn sie denn nur wollen, solange werden alle, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, stets die Schuld nur bei sich selber suchen und nie bei jener Lüge, die dahinter steckt und alles zusammenhält. Es wird denn auch nie das Ganze in Frage gestellt bzw. neuen Regeln unterworfen oder gar “therapiert”. Therapiert werden nur die einzelnen Individuen, die dem Gesamtsystem zu wenig Nutzen bringen oder bereits dermassen überarbeitet, ausgelaugt oder ihres gesamten Selbstwertgefühls beraubt sind, dass sie nicht mehr “systemkonform” weiterfunktionieren können.

Das Konkurrenzprinzip und der allgemein gegenwärtige Wettbewerb machen den Menschen zum Feind seiner selbst. Wenn die chinesische Kunstturnerin länger und härter trainiert als je zuvor, zwingt sie, ob sie will oder nicht, alle ihre weltweiten Konkurrentinnen von Brasilien über Frankreich bis Russland dazu, ebenfalls noch länger und härter zu trainieren denn je. Wenn der Postbote des Unternehmens X in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete verteilt als je zuvor, dann zwingt er, ob er will oder nicht, alle Postboten und Postbotinnen der Firma Y dazu, ebenfalls in noch kürzerer Zeit noch mehr Pakete zu verteilen, weil ja alle miteinander unter dem gleichen permanenten Druck stehen, im gegenseitigen Konkurrenz- und Verdrängungskampf nicht unterzugehen. Ob Pizzakuriere, die keine Zeit mehr haben für eine Pause und unterwegs in eine mitgebrachte Flasche pinkeln müssen, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter amerikanischer Schlachthöfe, die, weil auch ihnen nicht genügend Pausen gegönnt werden, in Windeln zur Arbeit gehen müssen, ob die Bananenarbeiterinnen in Costa Rica und jene an der Elfenbeinküste und jene auf den Philippinen, deren Unternehmen auf dem Weltmarkt gegenseitig um die grössten Marktanteile kämpfen, ob die Kinder in der Schule, die im permanenten gegenseitigen Wettkampf um die besten Noten und die besten Zeugnisse stehen: Je mehr sich die einen anstrengen, umso mehr sind die anderen gezwungen, sich noch mehr anzustrengen – das Konkurrenzprinzip ist das beste, effizienteste und raffinierteste Mittel, alle zu immer höheren Leistungen anzutreiben, die Peitsche in den Händen der Sklaventreiber des 21. Jahrhunderts, der gegenseitige Überlebenskampf in tödlichem Wasser, wo nicht genügend Rettungsringe für alle vorhanden sind und alle deshalb gezwungen sind, sich gegenseitig diese Rettungsringe unter Aufbietung aller Lebenskraft aus den Händen zu reissen.

Das besonders Fatale daran ist, dass sich dieser gegenseitige, tödliche Konkurrenzkampf aller gegen alle naturgemäss immer weiter verschärft. Da es an der Spitze immer enger wird, muss stets eine immer noch grössere Leistung erbracht werden, um sich gegenüber der Konkurrenz wenigstens einen auch noch so winzigen Vorteil zu verschaffen. Aufwand und Ertrag klaffen immer mehr auseinander, für einen immer kleineren Zugewinn auf der einen Seite müssen immer grössere Opfer auf der anderen Seite erbracht werden. Für den Rest des Lebens kaputttrainierte Körper, die explosionsartige Zunahme von Burnouts auf den Chefetagen, die immer weiter ansteigende Zahl von Depressionen und Suizidversuchen Jugendlicher, zunehmender Drogen- und Medikamentenkonsum, immer längere Warteschlangen vor den Türen von psychotherapeutischen Beratungsstellen, Behandlungszimmern, Therapieräumen und Kliniken: Das ist alles kein Zufall, sondern nur die ganze logische Folge des sich naturgemäss immer weiter verschärfenden Konkurrenzprinzips, vergleichbar einem Karussell, das sich immer schneller dreht und in dem es immer schwieriger wird, sich an den einzelnen Sitzen festzuklammern, um nicht in ein unbestimmtes, bedrohliches Nichts hinausgeschleudert zu werden.

Immer wieder wird behauptet, dies alles liege in der Natur des Menschen. Schon die kleinsten Kinder würden es lieben, sich in gegenseitigem Wettstreit zu messen. Was für eine Unterstellung, was für eine Projektion von Phantasien Erwachsener auf das eben erst erwachte Leben der Kinder. Gerade sie zeigen uns doch am deutlichsten, dass der gegenseitige Wettkampf um Erfolg und Misserfolg eben nicht in der Natur des Menschen liegt. Es stimmt, dass ein Kind zu weinen und zu schreien beginnt, wenn ein anderes zwei Spielzeuglastwagen hat und es selber keinen. Es will das, was andere auch haben. Aber das hat nichts zu tun mit Konkurrenzkampf, sondern nur mit dem elementaren Anspruch auf Gerechtigkeit. Lässt man die kleinen Kinder in Ruhe, so zeigen sie ein so hohes Mass an sozialem Verhalten und sind immer darauf bedacht, alles gerecht untereinander zu verteilen, dass wir Erwachsene nur staunen müssten und immer wieder von ihnen lernen könnten. Viel zu schnell aber leben wir ihnen das Gegenteil vor und müssen uns dann freilich nicht wundern, wenn auch die Kinder möglichst schnell in unsere Fussstapfen treten wollen und nach und nach der Wunsch, stärker, besser und reicher zu sein als andere, das ursprünglich so tief verwurzelte soziale Verhalten nach und nach zu verdrängen beginnt.

Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Konkurrenzprinzip nur eine von vielen, aber beileibe nicht die einzige Möglichkeit ist, wie das Arbeiten und das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden können. Wie der an der Universität Wien lehrende Soziologe Khaled Hakami kürzlich in einem Interview mit der “NZZ am Sonntag” eindrücklich beschrieben hat, beruht zum Beispiel die Lebensphilosophie der Maniq, einem im südlichen Thailand wohnhaft indigenen Volk, auf einem von Grund auf anderen Wertesystem. Tätigkeiten der täglichen Arbeitswelt werden nicht unterschiedlich bewertet, nichts ist mehr oder weniger wert als anderes. Es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein Maniq würde nie auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, liegen herum, rauchen, kuscheln und – modern ausgedrückt – chillen. Das Vergleichen ist ihnen fremd. Sie haben in ihrer Sprache, in der es weder einen Komparativ noch einen Superlativ gibt, nicht einmal die Möglichkeit dazu, ebenso wie es auch keine Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – ihre Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Jeglicher Wettbewerb ist ihnen völlig fremd. Zudem sind sie durch und durch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Auch kennen sie kein Konzept von Eigentum – wenn sie etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach. An Dingen wie Smartphones, Messern oder anderen Objekten der “zivilisierten” Welt zeigen sie absolut kein Interesse. “Unsere westliche Welt”, so Khaled Hakami, “ist für sie vollkommen bedeutungslos”, und er fügt hinzu, dass die Lebensphilosophie der Maniq, gesamtgeschichtlich betrachtet, nicht eine seltene Ausnahme bildet, sondern das verkörpert, was während der weitaus längsten Periode der Menschheitsgeschichte Normalität war: “So wie wir westliche Menschen heute ticken, haben die meisten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben, nie getickt.”

Es ist für uns westliche, “moderne” Menschen, zutiefst beseelt von einem kaum je in Frage gestellten “Fortschrittsglauben”, offensichtlich kein Thema, dass sich Geschichte auch in eine andere Richtung bewegen könnte als nur in jener einer permanenten Profitmaximierung, Leistungssteigerung und technologischer Perfektionierung. Doch nur schon das Wort “Fortschritt” zeigt uns, dass wir uns, mit dem ständigen Blick in eine noch “perfektere” Zukunft, gleichzeitig auch von etwas anderem “fort” bewegen, was nicht a priori schlechter gewesen sein muss als alles “Moderne”. Käme man zur Erkenntnis, dass wir an einer bestimmten Stelle der Menschheitsgeschichte falsch abgebogen sind, was sollte uns dann daran hindern, zu dieser Stelle zurückzugehen und nochmals nachzuschauen, ob es nicht vielleicht einen besseren Weg gegeben hätte. So wie sich jedes Individuum irren kann, so kann sich auch die Menschheit als Ganzes irren. Doch wäre es nicht ein Zeichen grösster Intelligenz, sich einen solchen Irrtum auch ehrlich einzugestehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen?

Doch auch wenn wir nicht rechtzeitig zu einer solchen Einsicht gelangen, wird uns das Leben früher oder später schlicht und einfach dazu zwingen. Denn bald schon werden die Opfer des weltweiten Konkurrenz- und Wettkampfs aller gegen alle so gross sein, dass sich die daraus entstehenden Probleme auch rein ökonomisch nicht mehr werden bewältigen lassen. Und dann wird und muss das Zeitalter des Gegeneinander ein Ende haben und einem neuen Zeitalter des Miteinander Platz machen. Dann werden wir vielleicht eher wieder so leben wie die Maniq im Süden Thailands und alle unsere Begabungen und Lebenskräfte nicht mehr nur darauf verwenden müssen, potenzielle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern dazu, unser Bestmögliches zum Gelingen und zum Wohl des Ganzen beizutragen. Doch müssen wir wirklich so lange warten, bis alles von selber zusammenbricht? Müssen wir wirklich noch so viele unzählige Opfer in Kauf nehmen? Wäre es nicht jetzt schon höchste Zeit für ein radikales Umdenken zum Wohle aller?

Und um auf den Ausgangspunkt dieses Artikels, die Olympischen Spiele, zurückzukommen: Höchstmögliche körperliche und akrobatische Leistungen werden auch in einem neuen Zeitalter des Miteinander zu bewundern sein. Aber nicht mehr in römischen Amphitheatern, bei Gladiatorenkämpfen, in Wettkampfarenen und bei olympischen Spielen im Kampf aller gegen alle um die paar wenigen goldenen, silbernen und bronzenen Medaillen, während alle anderen leer ausgehen. Sondern auf Plätzen mitten in den Städten, auf einem Dorffest oder in einem Zirkus, wo Menschen ihre besten und aussergewöhnlichsten Talente zur Schau stellen können, nie irgendwer mit irgendwem verglichen wird, alle Formen von Ranglisten für immer der Vergangenheit angehören und das Glück, der Triumph und der Erfolg der einen zugleich immer auch das Glück, der Triumph und der Erfolg aller anderen sind.

(Nachtrag am 3. August 2024: Anlässlich der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris inszenierten die Sängerin Juliette Armanet und der Pianist Sofiane Pamart auf einem Floss in der Seine treibend und mit einem brennenden Flügel John Lennons “Imagine”. Am polnischen TV-Sender TVP kommentierte ein Moderator diese Darbietung mit folgenden Worten: “Eine Welt ohne Himmel, ohne Nationen und ohne Religion, das ist eine Friedensvision, die alle ergreifen sollte.” Im Anschluss an die Sendung wurde er entlassen.)

(Nachtrag am 4. August 2024: An den Olympischen Spielen in Paris stemmte sich die Slowakin Tamara Potocká nach ihrem Vorlauf über die 200 Meter Lagen aus dem Becken, brach zusammen und blieb bewusstlos liegen. Später sagte sie: “Ich habe mir gesagt, dass ich alles geben werde und meine Seele im Pool lassen werde.”)

(Nachtrag am 9. August 2024: Seit einer Woche wird heftigst diskutiert, ob die algerische Boxerin Imane Khelif aufgrund ihres männlichen Geschlechtsstatus an den Wettkämpfen der Frauen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfe oder nicht. Es sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Sportlerinnen in solchen Fällen schon Suizid begangen haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Grunde ist Wettbewerb immer unfair. Denn die Hochspringerin mit den längeren Beinen hat nun mal naturgemäss grössere Chancen als die mit den kürzeren Beinen. Der Skirennfahrer Beat Feuz saust dank seines überdurchschnittlichen Körpergewichts logischerweise schneller ins Tal als seine leichteren Mitkonkurrenten. Und die 14jährige Turnerin hat nun mal biegsamere Gelenke als die 24Jährige. Die einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass Vergleichen immer absurd und ungerecht ist, sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sport. Kein Mensch verfügt in irgendeinem Leistungsbereich über die genau identischen Voraussetzungen wie ein anderer. Man kann schlichtweg, wie es eine Schweizer Redenwendung sagt, Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, auch nicht ein Krokodil mit einem Regenwurm, auch nicht Max mit Röbi. Also: Finger weg vom Vergleichen, vom Wettbewerb, vom Konkurrenzprinzip, das immer nur dem “gerecht” wird, der die besseren Voraussetzungen mitbringt.)

(Nachtrag am 18. August 2024. Was ebenfalls kaum je thematisiert wird, wenn die “erfolgreichsten” Nationen nach Olympischen Spielen ihre Medaillen zusammenzählen und ihre Ranglisten von den Besten bis zu den Schlechtesten veröffentlichen: Der Leistungsförderung in den reicheren Ländern stehen unvergleichlich viel höhere finanzielle Mittel zur Verfügung. Ihre Sportlerinnen und Sportler sind weitgehend mit viel Geld und allen weiteren zur Verfügung stehenden Raffinessen und Tricks aufgepumpte Leistungsmaschinen, gegen welche die Menschen in den ärmeren Ländern, selbst wenn sie noch so sportlich begabt wären, nicht die geringste Chance haben. Was wieder den Vergleich mit dem Krieg nahelegt, wo Pfeil und Bogen von Naturvölkern hoffnungslos unterlegen sind im Kampf gegen die Panzer und Raketen aus den Ländern der Reichen. Was für ein unsichtbares Potenzial, von dem niemand spricht. Selbst siebenjährige Kinder irgendwo in Indonesien oder auf einer der Pazifikinseln, die auf ihrem täglichen Schulweg gefährlichste Felswände überwinden oder sich durch den dichtesten Dschungel voller gefährlicher Tiere hindurchkämpfen müssen, vollbringen vermutlich grössere körperliche Leistungen als manch eine Europäerin oder ein US-Amerikaner, der soeben von den Olympischen Spielen in Paris mit einer Medaille nach Hause gekommen und dort wie ein Gott empfangen worden ist. Hätte nicht auch jene zwölfjährige Inderin, die zur Coronazeit ihren an einen Rollstuhl gefesselten Vater über 800 Kilometer weit über Strassen und Wege voller Steine und Löcher stiess, eine olympische Goldmedaille verdient?)