Ohne Aufklärung und Selbstkritik gibt es keine nachhaltige, dauerhafte Friedenslösung

 

“Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion”, so der deutsche Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel im “Tagesanzeiger” vom 17. März 2022, “gab es eine Zeit der Offenheit. Verhängnisvollerweise hat das Regime Putin diese Suchbewegung abgebrochen und blockiert. Putin verkörpert eine Politik, die nicht fähig ist, einen Ausweg aus dem Grossmachtstreben zu finden. Putin stemmt sich gegen den Lauf der Geschichte.” Von einem Historiker und Osteuropaexperten hätte ich eigentlich eine etwas differenziertere Betrachtungsweise erwartet. Schlögel scheint die Rede Putins vor dem deutschen Reichstag im September 2001, kurz nach seinem Amtsantritt, völlig entgangen zu sein. “In dieser Rede”, so der langjährige ARD-Publizist Fritz Pleitgen, “gab Putin alles, um die Europäische Union für eine faire Partnerschaft mit Russland zu gewinnen. Er erklärte einen stabilen Frieden auf dem europäischen Kontinent zum Hauptziel Russlands und forderte eine Abkehr von den Stereotypen und Klischees des Kalten Kriegs. Und er betonte, ohne eine standfeste Sicherheitsarchitektur sei auf diesem Kontinent kein Klima des Vertrauens und kein einheitliches Grosseuropa zu schaffen.” Ebenfalls unterschlägt Schlögel die Tatsache, dass trotz dieser russischen Friedensangebote die NATO-Osterweiterung unter Federführung der USA aktiv und gezielt vorangetrieben wurde und dies, obwohl die Administration George Bush sen. dem damaligen Sowjetführer Gorbatschow im Februar 1990 versprochen hatte, die NATO werde “keinen Inch” nach Osten vorrücken, und der US-Historiker George Kennan 1997 mit folgenden Worten vor einer NATO-Osterweiterung warnte: “Die ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung lenken, die uns nicht gefallen wird.” Schliesslich erwähnt Schlögel auch mit keinem Wort, dass die jährlichen Militärausgaben der USA zwölf Mal höher sind als jene Russlands. Meine Anmerkungen sollen auf keinen Fall als Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dienen. Krieg ist nie und unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Trotzdem sollte man sich aber weiterhin, und in einer so angespannten Zeit wie der unseren erst Recht, um die historische Wahrheit bemühen. Von einem glaubwürdigen Historiker erwarte ich Aufklärung, nicht polemische und einseitige Zuspitzungen und Schuldzuweisungen. Aufklärung aber beinhaltet immer auch Selbstkritik. Erst wenn wir erkennen, dass der Westen an der heutigen weltpolitischen Entwicklung nicht gänzlich unschuldig ist, werden wir in der Lage sein, eine Friedensordnung aufzubauen, die nachhaltig und dauerhaft Bestand haben wird.