Ob die Gesichtscrème noch drinliegt? Armut im Alter mitten in der reichen Schweiz

 

A.T., die über ein Monatseinkommen von 2670 Franken verfügt, hat sich, wie die “NZZ am Sonntag” in ihrer heutigen Ausgabe vom 13. Dezember 2020 berichtet, bisher stets als seltenen Luxus eine Gesichtscrème aus dem Globus geleistet; nun aber zögert die Rentnerin, ob sie die leere Dose ersetzen soll. Laut Schätzungen der Pro Senectute haben in der Schweiz 200’000 Personen im Pensionsalter finanzielle Probleme. Das ärmste Fünftel der Alleinstehenden kommt auf ein monatliches Einkommen von gerade mal 2300 Franken, während die reichsten 20 Prozent viermal so viel erhalten, nämlich 9500 Franken. Hauptgrund für diese grosse Differenz ist die berufliche Tätigkeit, die jemand ausgeübt hat – wer eine Arbeit mit tiefem Lohn ausgeübt hat, erhält im Alter eine entsprechend tiefere Rente. Deshalb ist es kein Zufall, dass Frauen von Armut im Alter überproportional betroffen sind. Laut einer Analyse des Gewerkschaftsbundes zahlt Gastrosocial, die Pensionskasse des Gastgewerbes, ihren Pensionierten im Schnitt 600 Franken pro Monat. In der Coiffeur- und Kosmetikbranche liegt der Beitrag mit 800 Franken nur unwesentlich höher. Und auch das Verkaufspersonal ist für den Ruhestand schlecht abgesichert… Zahlen, die zu denken geben, vor allem dann, wenn wir uns daran erinnern, dass nicht nur die Renten der Schlechtverdienenden, sondern auch ihre Lebenserwartung statistisch deutlich tiefer liegt als jene der Gutverdienenden und akademisch Gebildeten. Damit nicht genug: Schlechtverdienende verrichten zumeist besonders monotone, anstrengende und oft auch gefährliche berufliche Tätigkeiten. Zusammengefasst können wir also sagen, dass ausgerechnet jene Menschen, die besonders hart arbeiten und besonders wenig verdienen und während einer längeren Zeit ihres Lebens berufstätig sind – weil sie einerseits weniger lange zur Schule gingen und sich anderseits eine Frühpensionierung gar nicht leisten könnten – sowie zu alledem noch weniger lange leben, im Alter dann sozusagen noch damit “bestraft” werden, dass sie sich mit einer kleineren Rente zufrieden geben müssen und unter Umständen gar von Armut betroffen sind. Dies alles zeigt, dass die Schweiz weit davon ist, ein wirklicher Sozialstaat zu sein. Denn wenn schon unterschiedliche Renten, dann müsste man eigentlich all jenen, die überdurchschnittlich lange und hart gearbeitet und trotzdem wenig verdient haben und mit einer geringeren Lebenserwartung rechnen müssen, eher eine überdurchschnittlich hohe Rente ausrichten, damit sie wenigstens im Alter jene Früchte geniessen könnten, für deren Gedeihen sie sich ein Leben lang abgerackert haben. Oder noch sozialer: Es gibt, über alle Berufe hinweg, einen Einheitslohn. Und dann logischerweise auch über alle Berufe hinweg eine Einheitsrente, so dass kein Mensch im Alter in Armut leben müsste…