Ninja Warrior schon für Kinder ab fünf Jahren: Wie die Welt einmal mehr aus allen Fugen geraten ist

“Seit Juli 2020”, so wirbt der Privatsender RTL+ für eines seiner neuen Sendegefässe, “heisst es auch für die Kids: Ring frei für die Ninja Warriors! Jetzt können auch 10- bis 13Jährige beweisen, was sie draufhaben. Die hell erleuchtete Arena mit den stählernen Hindernissen und den frisch gefüllten Wasserbassins steht bereit. Das Spannende am Spiel ist, dass man live mitverfolgen kann, wie lange die Kraft der Kinder reicht. Aus ganz Deutschland können sich bewegungsfreudige Kinder für eine Teilnahme bewerben. Wer sein sportliches Können zeigen darf, kann sich auserwählt fühlen. Der zu absolvierende Parcours besteht aus anspruchsvollen Hindernissen zum Schwingen, Klettern, Klimmen und Springen. Dabei handelt es sich um die gleichen Aufbauten, die auch die Erwachsenen bezwingen müssen. Die zu überwindenden Hindernisse sind der Fünfsprung, die Ringrutsche, die Trapezstangen zum Schwingen und Ins-Netz-Springen, die schwebenden Tritte, der Radschwung mit Seil und eine 4,25 Meter hohe Wand mit Griffen. Zuletzt erklimmen die Kinder den acht Meter hohen Mount Midoriyama. Das Finale bestreiten die zwei Besten der Staffel, bis ein Sieger oder eine Siegerin feststeht, die hierfür mit einer Prämie von 5000 Euro belohnt wird.”

Auch in der Schweiz wird Ninja Warrior für Kinder immer populärer. Im Oktober 2022 wurde in Basel ein Ninja Kids Camp organisiert, an dem Kinder bereits ab fünf Jahren teilnehmen konnten. Und immer mehr Veranstalter bieten Trainingsmöglichkeiten schon für Kinder ab sechs Jahren an. Kinderarbeit ist zwar gesetzlich verboten, doch sobald es um Sport geht, scheinen der Phantasie, wie man schon aus den Jüngsten der Jungen auch noch das Letzte an körperlicher Höchstleistung herauspressen kann, offensichtlich kaum mehr irgendwelche Grenzen gesetzt zu sein. Wenn man die Kinder sich unter Aufbietung ihrer alleräussersten Kräfte von Ring zu Ring, von Stange zu Stange hangeln sieht, das Zaudern vor meterweiten Sprüngen und ihre schmerzverzerrten Gesichter, dann kann man sich wohl so manche andere “Kinderarbeit” vorstellen, die weitaus weniger anstrengend und gefährlicher wäre. Und wenn man dann die Coaches und die Eltern sieht, die unten, auf dem sicheren Boden, ihre Kinder und Schützlinge anfeuern, bejubeln und beklatschen, dann fragt man sich schon unwillkürlich, wer sich denn hier auf Kosten von wem das grösste Vergnügen bereitet und ob diese Kinder aus eigenen Stücken ebenfalls jemals auf eine so verrückte Idee gekommen wären. Zumal hier das ursprüngliche kindliche Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung und die Bereitschaft, es allen recht zu machen und die in sie gesetzten Erwartungen nur ja nicht zu enttäuschen, auf geradezu schamlose Weise ausgenützt und missbraucht wird: Sie hätte keine Angst vor den Hindernissen gehabt, meint ein zehnjähriges Mädchen im Anschluss an einen von ihr erfolgreich absolvierten Durchgang. Auch keine Angst, die Kraft in den Armen und Beinen könnte nicht ausreichen, um die steilen Wände zu überwinden oder sich an den “Bienenwaben” nicht mehr festklammern zu können. Auch keine Angst, zwischen den Kugeln, über die sie hinunterspringen musste, hinunterzufallen und sich die Beine zu verkeilen. Auch keine Angst davor, sich zu verletzen. Sie hätte einzig und allein nur davor Angst gehabt, sich an einem der Hindernisse nicht mehr in die Höhe zerren zu können, ins Wasserbecken zu fallen und damit ihre Eltern, ihren Coach und alle ihre Freundinnen und Freunde zu enttäuschen.

Was für eine verrückte Welt. Ich möchte nicht wissen, was diese “Arenen” für Ninja-Warrior-Spektakel voller ausgeklügelter Hindernisse, künstlicher Berge und riesiger Schwimmbecken mit aufgeheiztem Wasser, das ganze Personal, die Trainingshallen, die Werbung und die ganze Ausrüstung wohl kosten mögen. Gleichzeitig werden aus Spargründen kaputte Geräte auf öffentlichen Kinderspielplätzen oft monatelang nicht ersetzt oder repariert, in den Schulen werden, ebenfalls aus Spargründen, Klassenlager, Exkursionen, Sportveranstaltungen oder Turnlektionen gestrichen, während an allen Ecken und Enden der Aufschrei ertönt, die heutigen Kinder würden sich zu wenig bewegen, sässen nur noch vor dem Computer, seien in immer grösserer Zahl von Fettleibigkeit betroffen, könnten keine Purzelbäume mehr schlagen und oft sogar im Alter von drei Jahren immer noch nicht selbständig eine Treppe hochsteigen. Aber egal, sie können ja dann wenigstens vor dem Fernseher sitzen und sich daran ergötzen, wie andere Kinder im Übermass all das bekommen und ihnen im Übermass all das zugemutet wird, was ihnen, den zuhause Gebliebenen, gleichzeitig in ebenso extremem Übermass verweigert und vorenthalten wird.