Nicht nur im Pflegebereich: Die Forderung nach höheren Löhnen und die “unternehmerische Realität”

 

“Als Spitaldirektor”, so Fortunat Von Planta, Direktor des Kantonsspitals Uri, in der “Rundschau” des Schweizer Fernsehens vom 10. November 2021, “muss ich ganz ehrlich sagen, auf der Seite des Spitals ist einfach nicht genug Geld vorhanden, um höhere Löhne zu bezahlen. Da würden wir nur falsche Erwartungen schüren, die gar nicht eingehalten werden könnten, und dann wäre die Enttäuschung nur umso grösser. Mit höheren Löhnen würden wir nämlich unser Spital glatt an die Wand fahren. Das ist die unternehmerische Realität.” Das Gleiche würde wahrscheinlich auch der Besitzer eines Restaurants oder eines Hotels seinen Angestellten sagen, wenn sie mehr Lohn verlangen würden. Und genau gleich tönt es jeweils vom Baumeisterverband, wenn die Gewerkschaften der Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter höhere Löhne fordern. Auch der Detailhandel, Industrieunternehmen und die Landwirtschaft, überall das gleiche Lied von der “unternehmerischen Realität”, wonach kein Betrieb mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Eigentlich logisch. Und doch gleichzeitig auch höchst fragwürdig. Denn diese Logik der betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung hat zur Folge, dass ausgerechnet all jene Berufe – von der Landarbeiterin, der Krankenpflegerin und dem Bäcker über den Fabrikarbeiter, den Lastwagenfahrer und den Kehrichtmann bis zur Verkäuferin und dem Bauarbeiter -, die für das Funktionieren der gesamten Gesellschaft am unerlässlichsten sind, dass ausgerechnet diese Berufe mit den geringsten Löhnen Vorlieb nehmen müssen, während Berufe, auf die man notfalls auch verzichten könnte – wie zum Beispiel Bankangestellte, Werbefachleute, Immobilienmakler, Unternehmensberaterinnen, Verkaufsleiter, Rechtsanwälte und Anlageberater – mit mehrfach höheren Löhnen ausgestattet sind. Offensichtlich ein Systemfehler. Denn wenn es schon Lohnunterschiede geben muss, dann müssten doch jene beruflichen Tätigkeiten am höchsten entlohnt werden, auf welche die Gesellschaft am wenigstens verzichten kann und welche die höchste “Systemrelevanz” aufweisen, so dass dann beispielsweise Krankenpflegerinnen und Bauarbeiter, aber auch all jene, die unsere tägliche Nahrung besorgen, zu den Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdienern gehören würden. Dass jedoch das Gegenteil der Fall ist, bleibt nicht ohne gravierende Folgen. Allein im Pflegebereich sind heute bereits 11’000 Stellen unbesetzt und bis zum Jahr 2030 wird mit weiteren 65’000 fehlenden Pflegefachleuten gerechnet. Aber auch in der Gastronomie, der Industrie, auf dem Bau, im öffentlichen Dienst, in der Landwirtschaft und in vielen anderen Branchen wären Zehntausende von Stellen unbesetzt, wenn nicht Ausländerinnen und Ausländer all jene Arbeiten übernehmen würden, um die sich Schweizerinnen und Schweizer infolge schlechter Arbeitsbedingungen und tiefer Löhne schon längst nicht mehr reissen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn alle diese Arbeitskräfte eines Tages unser Land verlassen würden, um in ihrem eigenen Land eine berufliche Existenz aufzubauen. Wenn der Direktor des Kantonsspitals Uri davor warnt, dass mit höheren Löhnen sein Spital “an die Wand gefahren” würde, dann müsste man sich fragen, ob mit der heutigen betriebswirtschaftlichen Lohnpolitik möglicherweise früher oder später nicht nur das gesamte Gesundheitswesen, sondern auch die gesamte Wirtschaft an die Wand gefahren wird. Doch was wäre die Alternative? Wir müssten, was die Löhne betrifft, von einer betriebswirtschaftlichen zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise übergehen. Die Höhe eines Lohnes sollte sich nicht mehr nach der jeweiligen betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung ausrichten, sondern nach der Wichtigkeit eines Berufes für die Gesellschaft. Auch sollte ernsthaft die Einführung eines Einheitslohns in Betracht gezogen werden, denn in einer Gesellschaft, die so vernetzt ist wie die unsere, in der alles mit allem zusammenhängt und alles von allem abhängig ist, in einer solchen Gesellschaft wäre ein Einheitslohn das einzige wirklich Gerechte. Neue Sichtweisen und Visionen, die sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen lassen. Doch was soll uns davon abhalten, zumindest darüber nachzudenken? Ein Gefälle von 300 zu eins zwischen Höchst- und Tiefstlöhnen, wie es heute in der Schweiz an der Tagesordnung ist, kann ja wohl nicht ernsthaft der Weisheit letzter Schluss sein. Es gibt genug Ökonomen und Ökonominnen, welche sich ausschliesslich innerhalb der herrschenden “Marktlogik” bewegen. Da würde es doch nicht schaden, wenn ein paar wenige von ihnen neue, unverbrauchte, visionäre Wege beschreiten würden. Damit wir nicht eines Tages erwachen und mit Schrecken feststellen müssen, dass wir alle miteinander “an die Wand gefahren” sind…