Nicht «böse« Chefs, sondern «böses» betriebswirtschaftliches Denken

P.D. arbeitete als «Front-Mitarbeiter» in einem Hotel der Gastro-Kette Local Group, in Suhr AG. «Ausbeutung pur», sagt er, «ich musste einfach alles machen – von der Reception und der Kasse über das Putzen bis zum Kochen und Backen. Einmal war ich alleine für die Reinigung von 30 Zimmern zuständig. Ich arbeitete bis zum Umfallen und kam alleine im Juni auf 383 Arbeitsstunden, tatsächlich waren es aber sicher noch einige mehr.»… S.F. brach seine Lehre als Detailhändler 2014 ab. Sein Chef hatte ihm im ersten Monat 20 Minusstunden eingeschrieben. «In den nächsten zwei Monaten habe ich mehrmals 11,5 Stunden am Stück gearbeitet», so S.F., «aber trotzdem hielt sich mein Stundensaldo im Minus auf». Als er ihn darauf angesprochen habe, sei der Chef ausgewichen und in sein Büro abgehauen… Noch brutaler sind die Schilderungen von T.P.: Er brach die Lehre als Bäcker ab, nachdem er vom neuen Inhaber stark gemobbt wurde. «Die Bäckerei wurde für mich zum schlimmsten Ort. Der Inhaber hat mir die Hand in die Fritteuse gehalten, weil die Berliner nicht rechtzeitig fertig waren.»… Körperliche Gewalt erlebte auch P.M. in seiner Ausbildung zum Kunststofftechnologen. «Maschinenführer wurden teilweise handgreiflich mit Fusstritten. Ich hatte keinen Mut, mich zu wehren, weil ich fürchtete, die Lehrstelle zu verlieren. Was dann?» – Kein Wunder, gehen der Schweiz die Handwerkerinnen und Handwerker aus. Über 42’000 Stellen sind zurzeit frei, wie eine Untersuchung von «Blick» zeigt. Und der Nachwuchs fehlt: Für viele Junge ist es nicht mehr attraktiv genug, in einen handwerklichen Beruf einzusteigen. Immer häufiger werden Handwerkerlehren frühzeitig abgebrochen. Spitzenreiter ist Coiffeur mit 41,9%, danach folgt der Carrossierspengler mit 40,6%, dicht gefolgt vom Plattenleger mit 40,4%. Das Bundesamt für Statistik erfasste für eine Statistik 2012 fast 60’500 Lernende, die in jenem Sommer ihre Ausbildung begannen. 17% von ihnen brachen eine Lehre ab, also über 10’000 junge Menschen.

(www.blick.ch)

Meist werden, wenn von solchen Missständen die Rede ist, die «bösen» Chefs an den Pranger gestellt. Tatsächlich aber müsste man nicht die Chefs an den Pranger stellen, sondern das Prinzip des betriebswirtschaftlichen Renditedenkens. Das Hotel, in dem P.D. arbeitete, steht ja nicht alleine auf weiter Flur. Es ist einem täglichen knallharten Konkurrenzkampf mit zahllosen weiteren Hotelbetrieben in der näheren und weiteren Umgebung ausgesetzt. Würde man mehr Personal einstellen und dieses besser entlöhnen, müsste man die Zimmerpreise entsprechend anpassen und kein Gast käme ausgerechnet noch in dieses Hotel, wenn ihm ein kostengünstigeres Konkurrenzangebot zur Verfügung steht. Und genau gleich ist es mit jedem Verkaufsgeschäft, mit jeder Bäckerei, mit jeder Gärtnerei, mit jedem Restaurant und mit jedem Handwerksbetrieb. Sie alle sind gezwungen, sich gegenseitig zu zerfleischen, und dies stets auf dem Buckel der Angestellten und unter ihnen wiederum in ganz besonderem Masse auf dem Buckel der Lehrlinge, die sich kaum gegen masslose Arbeitsbedingungen und entwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte zu wehren getrauen.

Eine Lösung besteht einzig und allein in einer Abkehr vom betriebswirtschaftlichen Renditedenken und der damit verbundenen gegenseitigen zu Tode Konkurrenzierung. Eine Sichtweise, die sich nicht an betriebswirtschaftlichem, sondern volkswirtschaftlichem Denken orientiert: Die Frage würde dann nicht mehr lauten: Wie viel Gewinn kann ich aus diesem oder jenem Betrieb herauspressen? Sondern: Was ist der volkswirtschaftliche Nutzen dieses oder jenes Betriebs? Was wäre eine Schweiz ohne Hotels und Restaurants, ohne Bäckereien und ohne Handwerksbetriebe, ohne Gärtnereien und ohne Bücherläden? Und genau so, wie das zum Beispiel auch bei Schulen, Museen, Bibliotheken, Theatern, Spitälern und der Landwirtschaft der Fall ist, müssten diese Betriebe gewisse staatliche Zuschüsse erhalten, damit sie, um überleben zu können, nicht dazu gezwungen sind, ihr Personal gnadenlos auszubeuten. Zweifellos würde das einiges kosten, doch der gesellschaftliche und menschliche Nutzen wäre immens…