Nicht Alain Berset hat sich disqualifiziert, sondern jene, die über ihn hergefallen sind, bloss weil er ein Wort gebraucht hat, das ihnen nicht passte…

 

“Viele Politgrössen reagieren entsetzt – im Bundeshaus herrscht helle Aufregung” – so schreibt “20Minuten” am 14. März 2023. Doch worum geht es? Eigentlich nur um ein einziges Wort: “Kriegsrausch”. Bundesrat Alain Berset verwendete es in einem Interview mit der Zeitung “Le temps” und meinte damit die im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg weitverbreitete Meinung, mehr Waffen könnten mit noch mehr Waffen bezwungen werden, Krieg sei nur durch Krieg zu besiegen und für Friedensverhandlungen sei die Zeit noch nicht gekommen. Berset erwähnte einen Tag später in der “NZZ am Sonntag” vor allem auch die schweizerische Verpflichtung zur Neutralität, beruhend auf dem Engagement für Frieden, humanitäres Recht bis hin zur Chance einer friedensstiftenden Vermittlerrolle der Schweiz zwischen den Kriegsparteien.

Doch während Bersets Vision einer Friedenslösung unter schweizerischer Federführung im Nichts verhallte, stürzten sich Medien und Politiker wie ausgehungerte Hyänen auf das einzige und alleinige ominöse Wort des “Kriegsrausches”. “Berset rechtfertigt den russischen Angriff”, titelte der “Blick” – obwohl Berset den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stets unmissverständlich verurteilt hatte. “Freund” und “Feind”, so der Blick, seien entrüstet über Bersets Äusserung. Und die Gratiszeitung “20Minuten” interpretierte die heftigen Reaktionen von allen Seiten als Zeichen dafür, wie tief sich Berset “in die Nesseln gesetzt” habe.

Doch es sind nicht nur die Medien, die Sturm läuten. Auch die Politikerinnen und Politiker überbieten sich geradezu gegenseitig in der Verurteilung Alain Bersets. FDP-Präsident Thierry Burkart zeigt sich “schockiert”, Berset mache das Opfer zum Täter, seine Argumentation erinnere an Sahra Wagenknecht, dies schade dem Ansehen nicht nur der Schweiz, sondern ganz Europas. Matthias Bregy, Fraktionschef der Mitte-Partei, findet die Aussagen Bersets “inakzeptabel” und fordert Berset auf, künftig derartige Aussagen zu “unterlassen”. EVP-Nationalrat Nik Gugger zeigt sich “zutiefst frustriert” und meint, dass die Schweiz mit solchen Aussagen “falsche Signale” aussende. Berset habe, so Gugger, seine Sympathien verspielt. GLP-Chef Jürg Grossen findet, Berset habe sich mit seiner Aussage “disqualifiziert”. Sogar SP-intern stösst Berset auf heftige Kritik: Co-Präsidentin Mattea Meyer und Co-Präsident Cédric Wermuth distanzieren sich von seiner Analyse. Und selbst Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, welche sich bisher konsequent gegen Waffenlieferungen eingesetzt haben, wirft Berset vor, mit seiner Forderung nach Friedensverhandlungen die “russische Propaganda” zu übernehmen und Putin “in die Hände zu spielen”. Heute, so Glättli, würde er Berset nicht mehr zum Bundespräsidenten wählen.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass Berset mit seiner Aussage vom “Kriegsrausch” richtig lag, dann sind es diese Reaktionen. Tatsächlich scheint der Weg zwischen denen, die auf beiden Seiten der Front nach immer mehr Waffen rufen, unbeirrt und ungeachtet aller damit verbundener Todesopfer weiterhin an einen Sieg ihres Lagers und eine Niederlage des gegnerischen Lagers glauben und keinerlei Chance sehen für einen möglichst baldigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, ziemlich schmal geworden zu sein. Wer sich, wie Berset, mutig zwischen die Fronten stellt und sich nicht scheut, unbequeme Fragen zu stellen, hat nicht Schuldzuweisungen und Unterstellungen verdient, sondern, im Gegenteil, höchsten Respekt. Nichts ist in Zeiten gefährlichen “Einheitsdenkens” so wichtig wie Menschen, die gegen den Strom schwimmen und die andere zwingen, über ihr Verhalten nachzudenken. Man muss ja nicht sofort gleicher Meinung sein. Aber die Freiheit und der Respekt gegenüber Andersdenkenden müssen stets gewährleistet bleiben und sind als Basis für Demokratie und Meinungsvielfalt unerlässlich. Nicht Berset hat sich disqualifiziert, sondern die, welche über ihn hergefallen sind, nur weil er ein Wort brauchte, das ihnen nicht passte.