Neuer Kinofilm “The 355”: Und das war sie dann schon, die Emanzipation der Frau?

 

Am 6. Januar 2022 ist in Schweizer Kinos der Actionfilm “The 355” angelaufen. Das Besondere daran: Nicht Männer spielen darin die Hauptrolle, sondern fünf hochkarätige Schauspielerinnen, die, so berichtet die “Tagesschau” am 7. Januar, “ihren männlichen Actionkollegen punkto Knallerei und Prüglerei in nichts nachstehen und damit ganz offensichtlich sämtliche Genderstereotypen kurzerhand eliminieren, und dies mit dem Zweihänder, der Waffe in der Hand.” In der Tat: “The 355” macht “James Bond” alle Konkurrenz. Wie James Bond auf der Jagd nach dem ultimativen Bösewicht, so kämpfen sich die fünf Agentinnen von “The 355” auf der Suche nach einer Cyberwaffe bisher ungekannter Zerstörungskraft durch jedes noch so heimtückische Hindernis, angefangen von einer Verfolgungsjagd quer durch Paris, zu Fuss und per Motorrad, durch enge Strassen zwischen umgeworfenen Postkartenständern und Bistrotischen, quer über den Fischgrossmarkt mit spektakulärem Showdown zwischen Kühltruhen, auf Eis gelagerten Schwertfischen und Transportschiffen, und so weiter, von Paris über Marokko bis Shanghai. Doch ist das schon alles? Eigentlich habe ich mir unter der Emanzipation der Frau und der Überwindung bisheriger Genderstereotypen etwas anderes vorgestellt. Oder können wir uns ernsthaft damit zufriedengeben, dass die Frauen bloss in die Rollen schlüpfen, die bisher den Männern vorbehalten waren, um nun einfach noch einmal die gleichen Geschichten nachzuspielen, die schon tausendmal gespielt worden sind? Müssten echte Emanzipation, echter gesellschaftlicher Fortschritt und echte Überwindung traditioneller Geschlechterrollen nicht darin bestehen, Filme dieser Art schon gar nicht mehr zu drehen? Generationen haben sich über sinnlose Autowettrennen auf endlosen Highways in der Abendsonne, über immer ausgeklügeltere Waffen, Roboter und Unterseeboote, über mit Maschinengewehrsalven niedergemähte Gangsterbanden, über durch klirrende Fensterscheiben fliehende Bösewichte und über meterweit herumspritzendes Blut halb zu Tode amüsiert. Wäre es nicht an der Zeit, langsam erwachsen zu werden? Gut, immerhin retten am Ende des Films die fünf Agentinnen, wie löblich, die Erde vor dem Dritten Weltkrieg. Doch hätte es da nicht auch noch ein paar andere, kreativere und vielleicht sogar realistischere Möglichkeiten gegeben? Hätten die fünf Agentinnen, statt sich gegenseitig Motorräder, Tiefkühltruhen und Postkartenständer um die Köpfe zu schlagen, ihre Energie, ihre Tatkraft, ihr Geschick und ihre Intelligenz nicht auch darauf verwenden können, um eine internationale Konferenz für Frieden und Abrüstung ins Leben zu rufen, zu der Frauen aus allen Ländern der Welt eingeladen worden wären? Das wäre nicht spannend genug gewesen? Und ob! Die Widerstände und Hindernisse, die den fünf Frauen entgegengeschlagen hätten und wie sie damit umgegangen wären, was eine solche Bewegung weltweit ausgelöst hätte, wie der Dritte Weltkrieg dadurch vielleicht tatsächlich hätte verhindert werden können – kein noch so spannender Actionfilm, keine noch so wilde Motorradjagd, keine noch so weit in die Höhe fliegende Tiefkühltruhe könnten ein solches weltweites Friedensprojekt auch nur annähernd an Spannung überbieten. Aber ja, das würde wahrscheinlich viel weniger Geld in die Kinokassen und an die grossen Filmkonzerne spülen. Und so werden wir halt bescheiden, lassen die Postkartenständer und die Schwertfische weiterhin sausen und wähnen uns nur schon deshalb allzu gerne in einer besseren Welt, weil jetzt nicht mehr die Männer, sondern die Frauen mit der Waffe in der Hand auf die nimmermüden Bösewichte losballern…