Neue Kräfteverhältnisse am Arbeitsplatz: Schöne neue Welt…

Die Angestellten grosser Finanzkonzerne in den USA bekommen eine erste Ahnung der sich wandelnden Kräfteverhältnisse am Arbeitsplatz bereits zu spüren. Hier wird etwa die Software einer Firma namens Cogito eingesetzt. Die erweist sich als relativ streng. Die Mitarbeiter im Callcenter reden zu schnell? Dann wird ihnen ein Tachometer-Bildchen auf den Screen projiziert. Sie klingen schläfrig? Dann taucht ein Kaffeetassen-Symbol auf. Das Programm befindet ihre Ansprache als zu wenig empathisch? Ein Herzchen weist auf den Mangel hin. Doch das ist erst der Anfang. KI soll in Zukunft für jeden Einzelnen für mehr Produktivität am Arbeitsplatz sorgen. Ganz vorne dabei ist etwa das von ehemaligen Google-Führungskräften gegründete Start-up Humu. Hier will man eine Software entwickelt haben, die Mitarbeitern und Führungskräften motivierende Anregungen gibt, die individuell auf die jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und Potenziale abgestimmt sind.

Auch am Karlsruher Institut für Technologie forscht man an einem Konzept, bei dem «KI-basierte Kompetenz-Assistenzsysteme künftig helfen sollen, konzentrierte Arbeitsphasen zu erhalten und Anstösse zur persönlichen und beruflichen Kompetenzentfaltung zu geben». Heisst im Klartext: Durch Messung von Herzfrequenz und Hautleitwert soll erkannt werden, wann ein Mensch die für ihn produktivste Phase erreicht. Wie man diesen sogenannten Flow erreicht und aufrechterhält, soll eine Software herausfinden, die angeblich bereits heute mit 85-prozentiger Genauigkeit den jeweiligen Glückspegel des betroffenen Angestellten erkennt. «Nudging» nennt man das: Eine übergeordnete Instanz, unwichtig ob Programm oder Personaler, soll dem im Zweifelsfall unmündigen Individuum einen «Schubser» in die richtige Richtung geben, um so ein erstrebenswerteres Verhalten hervorzurufen. Diesen fürsorglichen Paternalismus, den früher irgendwelche Wirtschaftsweisen oder Verhaltensökonomen ausübten, regelt in Zukunft eine künstliche Intelligenz. Dass man sich mit den Software-Anschubsern gefährlich an längst überkommene tayloristische Methoden annähert und das auch noch bewirbt, ist wohl schlicht der notorischen Vergangenheitsvergessenheit der Tech-Branche zu verdanken. Denn schon vor fünfzig Jahren wurde kritisiert, dass so der letzte Tropfen Gewinn nicht nur aus dem Körper, sondern auch aus dem «Charakter und der Seele» der Arbeiter gequetscht werde.

(www.tagesanzeiger.ch)

Fassungslos haben wir von den neuesten technologischen Entwicklungen in China Kenntnis genommen, wo die Menschen mit alles umspannenden Überwachungssystemen auf Schritt und Tritt kontrolliert und registriert werden und wo bereits in einzelnen Schulen mittels Gesichtserkennung festgehalten wird, ob die Schülerinnen und Schüler auch tatsächlich dem Unterricht mit Interesse folgen oder in Gedanken abschweifen. Und nun die USA. Und Deutschland. Und wohl immer mehr weitere Länder. Es scheint nun schon bald keine Rolle mehr zu spielen, ob man im kommunistischen China lebt oder im «freien« Westen – wie eine sich endlos vermehrende Krake werden Leben, Arbeit und sogar die Freizeit in ein immer engmaschigeres Netz elektronischer Überwachung, Steuerung und Kontrolle eingebunden und niemand steht da und gebietet dem Ganzen Einhalt. So ganz nach der Devise: Was technisch möglich ist, wird früher oder später auch realisiert, ethische Bedenken hin oder her. Schöne neue Welt…