Nestlé mit 20,9 Prozent höherem Konzerngewinn und immer längere Menschenschlangen vor den Tafeln: Muss zuerst jemand verhungern?

Zwei Geschichten. Die erste ist die Geschichte von rund 1,2 Millionen von Armut betroffenen Menschen in der Schweiz. Die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, deren Haushaltsbudget trotz voller Erwerbsarbeit am Ende des Monats nur noch knapp ausreicht, um genügend Lebensmittel für sich und ihre beiden Kinder einkaufen zu können. Die Geschichte von den jährlich steigenden Preisen von Grundnahrungsmitteln wie Margarine, Speisefette und Öl – Preissteigerung 2023: 19.9 Prozent -, Zucker – 17 Prozent -, Butter – 12,2 Prozent -, Milch, Käse und Eier – 8,5 Prozent. Die Geschichte der zunehmenden Verschuldung vieler Menschen. Die Geschichte der bei den Tafeln anstehenden und auf kostenlose Lebensmittelpakete wartenden Menschenschlangen, die immer länger werden…

Die zweite Geschichte ist die Geschichte des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Nestlé, der im Jahre 2023 einen Gewinn von 11,2 Milliarden Franken erzielte (20,9 Prozent mehr als im Vorjahr), der die Dividenden für seine Aktionärinnen und Aktionäre zum 29. aufeinanderfolgenden Mal erhöhte, der den 14 Mitgliedern des Verwaltungsrats 9,9 Millionen Franken (0,3 Millionen mehr als 2022) und der gesamten Konzernleitung 64,5 Millionen Franken (6,7 Millionen mehr als 2022) auszahlte und dessen Konzernchef Mark Schneider einen Jahreslohn von 11,2 Millionen Franken erhielt, 9 Prozent mehr als im Vorjahr.

Für gewöhnlich werden diese beiden Geschichten gänzlich unabhängig voneinander erzählt, die eine vielleicht in den Mittagsnachrichten am Radio, die andere in der Tagesschau am Abend, die eine in einem Wirtschaftsmagazin, die andere in einer Politdiskussion zum Thema wachsender Armut, die eine findet man in der Tageszeitung auf der Wirtschaftsseite, die andere, wenn überhaupt, im Lokalteil der Zeitung. Ganz so, als hätte die eine Geschichte mit der anderen rein gar nichts zu tun.

Dabei braucht man doch nur über ein paar ganz rudimentäre mathematische Kenntnisse zu verfügen, um ausrechnen zu können, dass das Geld, welches in der einen Geschichte immer kleiner wird, vermutlich doch genau jenes Geld sein könnte, welches in der anderen Geschichte immer grösser wird. Geld fällt ja nicht einfach vom Himmel. Es wächst auch nicht auf Bäumen. Es wurde wohl auch noch nie in irgendwelchen Muscheln auf dem Meeresgrund gefunden. Wenn es am einen Ort so schmerzlich fehlt, muss es an einem anderen Ort in umso absurdere Höhen klettern. “Geld”, sagte dereinst der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, “ist vorhanden wie Dreck. Nur haben es die falschen Leute.”

Es wäre sozusagen das ökonomische ABC. Zu wissen, dass jegliches Geld, das sich bei den Reichen und Mächtigen ansammelt, früher oder später aus der Armut und der Arbeit all jener Menschen stammt, welche für die wundersame Vermehrung dieser Früchte immer grössere Opfer erbringen und gleichzeitig vom Genuss dieser Früchte immer mehr ausgeschlossen werden. Aber alles lernt man in den Schulen und über alles wird in aller Breite öffentlich diskutiert, debattiert und gestritten, nur über das Grundlegendste nicht, nämlich, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem im Grunde funktioniert. Die erste und die zweite Geschichte, man kann sie nicht unabhängig voneinander erzählen. Es sind zwei Puzzlestücke, die haargenau ineinander passen.

Und es soll niemand behaupten, das sei nur gerade bei den Lebensmittelpreisen oder beim Nahrungsmittelkonzern Nestlé so. Auch die Strompreise wachsen jährlich, allein im Jahre 2023 in der Grundversorgung für die Schweizer Haushalte um 5,77 auf 26,95 Rappen pro Kilowattstunde, was einer Zunahme von sage und schreibe 27 Prozent entspricht. Im Jahre 2024 soll es zu einer weiteren Preiserhöhung um 18 Prozent kommen. Und auch hier muss man nicht lange suchen, um das geklaute Geld wieder zu finden, nämlich bei den Stromkonzernen, von denen zum Beispiel allein die Berner Unternehmen BKW und Axpo im Jahre 2022 einen Gewinn von 574 Millionen Franken einfuhren, 247 Millionen mehr als im Vorjahr, allein die Axpo im ersten Halbjahr 2023 wiederum einen Rekordgewinn von 2,2 Milliarden Franken erzielte, die Berner Kraftwerke ihren Gewinn um 60 Prozent auf 304 Millionen Franken steigern konnten und der Stromkonzern Alpiq seinen Reingewinn 2023 sage und schreibe sogar um das Fünffache steigerte – gemäss Alpiq-Chefin Antje Kanngiesser die “besten Zahlern in der Geschichte von Alpiq”. Wenn dann beispielsweise die Berner Kraftwerke fast entschuldigend mitteilen, es gehe dabei nicht darum, die Konsumentinnen und Konsumenten zu schröpfen, sondern diese Gewinne seien bloss das Resultat des “Grosshandelsmarkts an der Börse”, zeigt nur, wie verlogen das Ganze ist. Den tatsächlich immer mehr geschröpften Konsumentinnen und Konsumenten ist es nämlich so ziemlich egal, ob diese ganze Absurdität in den Köpfen irgendwelcher habgieriger und nimmersatter Manager entstanden ist oder an irgendwelchen, schon längst nicht mehr durchschaubaren “Mechanismen” von “Weltmarktbörsen”, die offensichtlich niemand mehr so richtig im Griff zu haben scheint: Tatsache ist, dass auch in diesem Bereich das Geld in immer wachsendem Ausmass und mit immer schnellerem Tempo von denen, die viel zu wenig davon haben, zu denen fliesst, die sowieso schon viel zu viel davon haben.

Wie auch auf dem Immobilienmarkt, auf dem sich die Wohnungsmieten zwischen 1980 und 2022 um sagenhafte 145 Prozent erhöht haben, jährlich durchschnittlich um 2,15 Prozent, und wo nach Mietzinserhöhungen im Jahre 2023 bereits auf das laufende Jahr erneut weitere Erhöhungen angekündigt werden. Und auch hier muss man nicht lange suchen: So erhöhte der Immobilienkonzern Zug Estates seinen Betriebsertrag im Jahre 2023 um 5,8 Prozent auf 84,8 Millionen Franken und Swiss Prime Site erzielte 2022 einen Reingewinn von über 404 Millionen Franken, was unter anderem zu einer weiteren Dividendenerhöhung Anlass gab. Kein Wunder, konnte bei so viel Klauerei der Online-Ratgeber von Moneyland am 16. Oktober 2023 stolz verkünden: “Schweizer Immobilien haben in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an Wert gewonnen. Auch wenn sich die zukünftige Entwicklung nicht mit Gewissheit voraussagen lässt, waren Schweizer Immobilien in der Vergangenheit eine relativ sichere Anlage mit stetigem Wachstumspotenzial.” Ja, und auch einen grossen Teil des Ertrags aus den jährlich wachsenden Krankenkassenprämien, welche immer mehr Menschen schlaflose Nächte bereiten, würde man, ohne allzu lange suchen zu müssen, bei den gut verdienenden Kadern, den Managern und den Aktionärinnen und Aktionären jener 55 privaten Krankenkassen wiederfinden, die schon wissen, weshalb sie sich so erbittert gegen die Einführung einer staatlichen Einheitskrankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien zur Wehr setzen.

“Wärst du nicht reich”, sagt der arme zum reichen Mann in der Parabel von Bertolt Brecht, “dann wäre ich nicht arm.” Die Verbreitung dieser simpelsten aller simplen Wahrheiten über die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems werden jedoch all jene, die von diesem System profitieren und nicht wollen, dass sich etwas ändert, zweifellos mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bis zuletzt bekämpfen. Und so greifen sie auch noch zu den absurdesten Ausflüchten und schieben als Gründe für dieses wachsende Missverhältnis die “Inflation”, die “Coronapandemie”, den “Ukrainekrieg”, die “unsichere Weltlage”, den “Fachkräftemangel” und vieles mehr in den Vordergrund, bloss um zu verhindern, dass die tatsächlichen Ursachen ans Licht gelangen. Denn wenn dies geschähe, wäre wohl so etwas wie eine Revolution, in was für einer Form auch immer, unausweichlich. Auch die Französische Revolution 1789 wurde durch einen extremen Anstieg des Brotpreises ausgelöst, während der König und seine Höflinge auf dem Schloss von Versailles immer noch ihre ausgelassensten Fressgelage feierten. Der Unterschied ist: Damals hatte es schon Hungertote gegeben. Ob es wohl auch bei uns noch so weit kommen muss, bis einer genügend grossen Zahl von Menschen die Augen aufgehen?