Multimediahändler Fnac: Wenn das Lächeln der Verkäuferin über ihren Lohn entscheidet

 

“Wenn das Lächeln über den Lohn entscheidet” – so der Titel eines Artikels im “Tagblatt” vom 28. März 2022 über den französischen Multimediahändler Fnac, der “mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Franken die Deutschschweiz erobern und M-electronics, Orell Füssli und Co. Kundschaft abjagen” will. Das Besondere an Fnac ist seine Vergütungsstruktur: Nach jedem Kauf wird dem Kunden oder der Kundin eine Umfrage geschickt mit einer Notenskala von 1 bis 10, mit welcher die jeweilige Angestellte vom Kunden oder der Kundin bewertet wird. Auch werden sogenannte “Mysteryshopper” eingesetzt, um die Servicequalität vor Ort regelmässig zu überprüfen. Die verschiedenen Parameter tragen zum Gesamtbild der Mitarbeitenden bei und sind ausschlaggebend für den variablen Lohnanteil, der ca. 25 Prozent des Gesamtlohn ausmacht. Ein Lohnmodell, über welches sich wohl die meisten Leserinnen und Leser dieses Artikels nicht besonders verwundern werden, sind wir uns mittlerweile doch gewohnt, als Kundinnen und Kunden bei jeder Gelegenheit von der Hotelübernachtung über das Essen im Restaurant bis zum Einkaufen im Internet Bewertungen und Beurteilungen abzugeben. Und doch gäbe es genügend Gründe, solche Bewertungssysteme grundsätzlich in Frage zu stellen, vor allem dann, wenn sie noch zusätzlich mit variablen Lohnmodellen verknüpft werden. Typisch für solche Bewertungssysteme ist das immense Machtgefälle, das dahinter steckt: Der Kunde oder die Kundin kann sich noch so mühsam, lästig oder rechthaberisch verhalten – die Verkäuferin darf dennoch nie die Geduld verlieren, muss stets freundlich bleiben und lächeln, denn wenn sie das nicht tut, muss sie mit einer negativen Beurteilung und demzufolge mit einer Lohneinbusse rechnen. Das dahinter liegende Bild ist das Bild einer knallharten Klassengesellschaft, in welcher die Regeln von denen erfunden werden, die oben sind, und die jene ausbaden müssen, die unten sind. Das beginnt schon in der Schule, wo die Kinder und Jugendlichen rund um die Uhr von ihren Lehrerinnen und Lehrern bewertet und beurteilt werden und bei “schlechten” Leistungen oder fehlendem Wohlverhalten mit schlechten Noten und Zeugnissen dafür bestraft werden, was sich gravierend auf ihre zukünftigen Berufs- und Lebenschancen auswirken kann. Ob der Gast im Restaurant oder Hotel, ob die Kundinnen und Kunden im Modegeschäft oder ob der Lehrer und die Lehrerin, welche Noten und Zeugnisse verteilt: Andere Menschen zu bewerten und beurteilen zu können, ist stets auch mit dem Gefühl verbunden, über Glück oder Unglück anderer ein Stück weit bestimmen zu können, sich besser und “mächtiger” zu fühlen als andere. Dass dies etwas zutiefst Menschenfeindliches ist und dem elementaren Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen widerspricht, wird uns vielleicht dann bewusst, wenn wir uns für einen Moment einmal das Gegenteil vorzustellen versuchen: Nicht der Kunde bewertet die Verkäuferin, wie freundlich sie gelächelt hat, sondern die Verkäuferin bewertet den Kunden, wie geduldig und freundlich er sich verhalten hat. Nicht der Hotelgast bewertet das Zimmermädchen, wie gründlich sie das Zimmer geputzt hat, sondern das Zimmermädchen bewertet den Gast, wie herzlich er sich für ihre Arbeit bedankt hat. Nicht die Lehrerinnen und Lehrer bewerten die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen, sondern die Kinder und Jugendlichen bewerten die Lehrkräfte, wie interessant und verständlich sie den Schulstoff vermittelt haben, wie humorvoll sie sind und mit wie viel Liebe und Aufmerksamkeit sie sich um das einzelne Kind gekümmert haben. Doch zurück zu den Angestellten des Multimediahändlers Fnac, die nun damit leben müssen, dass ein Viertel ihres Lohns davon abhängt, wie freundlich sie lächeln und wie geduldig sie ihre Kundschaft auch dann noch bedienen, wenn sich, nach acht Stunden Arbeit, alles im Kopf dreht und sie vor lauter Schmerzen fast nicht mehr auf den Füssen stehen können. Die müssten doch froh sein, wenn sie überhaupt eine Stelle hätten, heisst es dann immer so schön. Was für eine verkehrte Welt! Was für eine Lüge, das ewige Gerede von den “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern”! Tatsächlich muss doch nicht die Verkäuferin dankbar sein dafür, dass sie eine Stelle hat. Dankbar sein muss doch der Firmenchef, dass die Verkäuferin ihm ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellt und ihm hilft, dank ihrem tiefen Lohn den Konzerngewinn immer weiter in die Höhe zu treiben. Und so ist es mit allen sogenannten “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern” in der kapitalistischen Arbeitswelt voller Ausbeutung und voller Lügen, welche die tatsächlichen Machtverhältnisse beschönigen und verschweigen. Aber vielleicht kommt ja doch noch irgendwann die Zeit, wo sich das Blatt wendet und dann nicht mehr der Kunde die Verkäuferin bewertet, sondern alle “Arbeitnehmer” und “Arbeitnehmerinnen” weltweit das kapitalistische Wirtschaftssystem bewerten, mit einer Notenskala von 1 bis 10. Wetten, das könnte eine böse Überraschung geben?