Moskau und Zürich – erschreckende Parallelen

Bei den neuen Protesten für faire und freie Wahlen in der russischen Hauptstadt nahm die Polizei nach Angaben des Innenministeriums etwa 600 Menschen vorübergehend fest. Die Nichtregierungsorganisation OWD-Info sprach von 828 Personen. Rund 1500 Menschen demonstrierten an der nicht genehmigten Aktion in Moskau. Das teilte die Behörde laut der Agentur Interfax am Samstagabend mit. Die Zahl der Festnahmen war damit doppelt so hoch wie vermutet.

Viele junge Teilnehmer wurden in Polizeibusse gezerrt. Demonstranten riefen «Schande» und «Russland wird frei sein». Reporter von internationalen Agenturen berichteten von einer bedrohlichen Atmosphäre im Zentrum der russischen Hauptstadt.

(www.tagesanzeiger.ch)

Nur zu berechtigt ist unsere Empörung über solche Vorfälle, die jeden rechtstaatlichen und demokratischen Prinzipien spotten. Doch haben wir ein so kurzes Gedächtnis? Haben wir tatsächlich schon vergessen – oder aus unserer Erinnerung verdrängt -, dass eben noch 70 Klimaaktivisten im Alter von 15 bis 64 Jahren, die den Eingang zum Hauptsitz der Credit Suisse in Zürich besetzt hatten, von der Polizei weggeschafft und verhaftet wurden? Wie Betroffene berichten, gingen dabei Polizisten und Beamte mit den Festgenommenen alles andere als zimperlich um. So berichtet eine der Frauen, sie hätte sich ohne richtige Begründung zur Körperkontrolle drei Mal ausziehen müssen. Sie sei dabei mit Schmerzgriffen zu Boden und gegen die Wand gedrückt worden und man sei auf die draufgestanden. Auch sei sie, bloss weil sie wissen wollte, was man mit ihr vorhatte, als «schwierig» und «dumm» eingestuft worden. Sie sei, so wurde ihr gesagt, «als Kind auf den Kopf gefallen». Auch habe man ihr gesagt, dass sie hier «keine Rechte» hätte. Eine andere Aktivistin berichtet, man hätte es ihr untersagt, ihre Eltern anzurufen – obwohl sie dazu berechtigt gewesen wäre. Schliesslich liess man die Festgenommenen erst zwei Tage später, nach der Übernachtung in heissen Zellen, bei denen das Öffnen der Fenster untersagt wurde, wieder frei – 54 der 70 Aktivistinnen und Aktivisten erhielten einen Strafbefehl, wonach sie sich der Nötigung schuldig gemacht hätten. Einige wurden zusätzlich des Hausfriedensbruchs schuldig gesprochen. Ausgesprochen wurden bedingte Geldstrafen. «Es war alles grauenhaft», berichtet eine 19Jährige, «ich habe die ganze Zeit nur geweint.» Es wird nicht einfach sein, den wesentlichen Unterschied zwischen den heutigen Vorfällen in Moskau und der Besetzung der Credit Suisse in Zürich durch Klimaaktivisten zu erklären. Nur dass das eine in der ältesten Demokratie der Welt geschah und das andere im vielgeschmähten «System Putin», auf dem wir so gerne herumhacken. Müssten wir uns, bevor wir uns selbstherrlich über andere auslassen, nicht zuerst bei der eigenen Nase nehmen?