Möglichst viel Sport und Biogemüse, um gesund zu bleiben? Alles pure Illusion…

Meistens, wenn ich älteren Menschen begegne, geht es im Gespräch früher oder später um das Thema Gesundheit, vorher kommt höchstens noch das Wetter oder die Information darüber, wo man die letzten Ferien verbrachte und wohin die nächste Ferienreise gehen soll.

Oft geht es um künstliche Knie- oder Hüftgelenke, zu hohen Blutdruck, Rückenbeschwerden, Kopfschmerzen, Übergewicht oder Schlaflosigkeit. Für viele Menschen, nicht nur für ältere, scheint die Gesundheit fast so etwas wie ihre Hauptbeschäftigung zu sein, schon fast eine Art Religion. Sie besuchen regelmässig für teures Geld ein Fitnessstudio, rackern sich dort an allen möglichen und unmöglichen Geräten fast bis zur Erschöpfung ab und schwingen sich dann, kaum zuhause, zusätzlich noch auf ihren privaten Hometrainer, stemmen Gewichte, machen Liegestütze, Kniebeugen und vieles mehr. Sie ernähren sich ausschliesslich gesund und natürlich biologisch, nehmen möglichst wenig Fett und Zucker zu sich, kontrollieren fast täglich ihr Gewicht. Sie überwachen mit einer immer grösseren Anzahl immer raffinierterer elektronischer Geräte den Zustand ihres Körpers, sind Tag und Nacht auf zwei Stellen nach dem Komma informiert über ihren Puls, ihren Blutdruck, die Zusammensetzung des Blutes und eilen voller Panik in die nächste Notfallstation, wenn irgendeiner dieser Messwerte auf einmal aussergewöhnlich nach oben oder nach unten ausschlägt. Schrittzähler klären sie jeden Abend darüber auf, ob sie an diesem Tag genug Bewegung gehabt und eine genug grosse Anzahl von Schritten zurückgelegt haben. In speziell hierfür eingerichteten Kliniken lernen sie schlafen oder ihr Übergewicht abbauen, in anderen Kliniken werden ihnen Süchte aller Art, Depressionen und Burnouts ausgetrieben. Hotels werben mit Wellnessoasen, Massagen, Yoga und sündhaft teuren Wohlfühlpaketen rund um die Uhr. Falten und andere störende Alterserscheinungen werden wegoperiert, Brillen durch Kontaktlinsen ersetzt, für jede Art von Bewegung ein hierauf spezialisierter Schuh und ein passender Dress gekauft. Und vor allem: Sie treiben Sport, auf Teufel komm raus, fast in jeder Sekunde ihrer Freizeit, legen täglich zwanzig oder fünfzig Längen im Schwimmbecken zurück, klettern möglichst schnell auf möglichst viele hohe Berge, joggen, bis ihnen der Schnauf ausgeht, rasen mit ihren Rennvelos in einem so horrenden Tempo durch die Landschaft, dass man meinen könnte, es ginge ums nackte Überleben. Und doch, seltsamerweise, sind sie nicht wirklich gesund und werden es auch nicht, wie man ja erwarten müsste, immer öfters. Wären sie wirklich gesund, dann würde die Anzahl von Menschen, die regelmässig Medikamente schlucken, nicht in einem so erschreckenden Ausmass laufend zunehmen.

Denn es ist eben alles pure Illusion. Man kann nicht körperlich gesund sein, wenn man nicht gleichzeitig auch geistig-seelisch-sozial gesund ist. Selbst wenn sich alle noch so akribisch gesammelten Messwerte vom Blutdruck über das Körpergewicht bis zum Zustand der Darmflora innerhalb der definierten Normen bewegen, heisst das noch lange nicht, dass man wirklich gesund ist. «Mens sana in corpore sano», sagten schon die alten Römer: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Das bedeutet nicht nur, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, sondern eben auch umgekehrt, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn nicht auch der Geist gesund ist.

Und zu diesem Geist gehören eben nicht nur der Intellekt und die Gefühle, sondern auch das Soziale, das sich von der Ganzheitlichkeit des Lebens nicht abtrennen, abspalten oder verdrängen lässt, wie es uns im Zeitalter permanenter «Selbstoptimierung» stets vorgegaukelt wird und letztlich einzig und allein der «Gesundheit» all jener dient, die auf die eine oder andere Weise aus dem Gesundheitsmarkt und der Gesundheitsindustrie einen materiellen Nutzen ziehen und deshalb alle diese Verrücktheiten angeblicher «Gesundheitsförderung» immer noch weiter und weiter auf die Spitze treiben.

Reich sein und keine Gefühle und kein Mitleid haben mit Armen. Üppige Mahlzeiten einzunehmen in einer Welt, wo jeden Tag eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett gehen. Fleisch essen, Auto fahren und fliegen, wo man doch weiss, dass dadurch sämtliche Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört werden. Reich werden durch Anteilscheine an Rüstungskonzernen, dank dem Tod Abertausender unschuldiger Kinder, Frauen und Männer. In schamloser Höhe auf Kosten anderer Dividenden und Kapitalgewinne einstreichen, ohne selber dafür arbeiten zu müssen. Lebensgeschichten von Flüchtlingen zu kennen mit all den viel zu vielen Narben auf ihren Körpern und in ihren Seelen, ohne alles in Bewegung zu setzen, um solchen aus Not, Verfolgung und Kriegen entflohenen Menschen eine neue Heimat zu bieten oder aber, alles zu tun im Kampf für eine gerechtere Welt, in der alle Menschen so gut leben können, dass niemand mehr gezwungen sein wird, seine Heimat zu verlassen und an einem ihm gänzlich fremdem Land eine neue Existenz aufzubauen. All das, alles blinde Leben auf der Sonnenseite ohne Mitgefühl für die Menschen auf der Schattenseite, kann nicht wirklich gesund machen, auch wenn man noch so viele Joggingrunden dreht, noch so viele Schlaftherapien absolviert und noch so ausgeklügelte und «gesunde» Nahrung zu sich nimmt.

Wirklich gesund werden können wir nur, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der Mensch eben nicht ein pures Einzelwesen ist, sondern immer auch Teil eines grossen Ganzen, in dem wir alle gegenseitig füreinander verantwortlich sind, sich alle, denen es besser geht, um jene kümmern müssen, denen es schlechter geht, und wir nur dann wirklich gesund sein können, wenn alle anderen – inklusive Erde, Pflanzen und Tiere – ebenfalls gesund sind, und dies nicht nur innerhalb eines einzelnen Dorfes, einer einzelnen Stadt oder eines einzelnen Landes, sondern weltweit. Solange Milliarden von Menschen, die unter Armut, Hunger, Verfolgung, wirtschaftlicher Ausbeutung, Erniedrigung und Kriegen leiden, nicht gesund sein können, können auch wir, die Reichen und Privilegierten, nicht wirklich gesund sein. Und jegliches Verdrängen, jede Selbstverleugnung, jeder Versuch, die Augen davor zu verschliessen, würde uns nur noch kränker machen.