Mit dem Blick in die Vergangenheit versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft

 

Nicht nur die Ukraine und Russland führen gegeneinander Krieg. Krieg, wenn auch nur mit Worten, herrscht auch zwischen all denen, welche Wladimir Putin bzw. Russland als Hauptschuldige betrachten, und denen, welche die Schuld an der kriegerischen Auseinandersetzung in erster Linie beim US-Imperialismus und der NATO-Osterweiterung sehen, von der sich Russland existenziell bedroht gefühlt hätte. Eine einzige, alleinige “Wahrheit” scheint es nicht zu geben, für jedes Argument wird eine Fülle von Gegenargumenten aus dem Hut gezaubert. Tatsache ist: Je nachdem, wie weit wir in die Vergangenheit zurückblicken, sieht das Ganze wieder anders aus. Blenden wir ins Jahr 1991 zurück, in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, als führende westliche Politiker Russland gegenüber das Versprechen abgaben, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, dann müssten wir in Anbetracht der späteren Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands dem Westen eine wesentliche Mitschuld, wenn nicht Hauptschuld an der heutigen Situation anlasten. Betrachten wir dagegen nur die Zeitspanne zwischen Februar 2022 und heute, dann kommen wir wohl nicht umhin, Russland den völkerrechtswidrigen Einmarsch in ein souveränes Nachbarland zum Vorwurf zu machen. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: Der Blick in die Vergangenheit ist alles andere als hilfreich, um diesen Konflikt zu lösen. Das Einzige, was etwas bringt, ist der Blick in die Zukunft. Nicht die Frage, wer woran Schuld gewesen ist und wie alles angefangen hat, bringt uns weiter. Weiter bringt uns nur die Frage, wie jene Zukunft aussehen könnte, in der die Bewohnerinnen und Bewohner dieser heute so verheerend und zerstörerisch umkämpften Gebiete friedlich und in Eintracht miteinander leben könnten und zwischen der Ukraine und Russland eine friedliche, auf Kooperation beruhende Partnerschaft entstehen könnte, in welche auch die europäischen Staaten konstruktiv eingebunden wären. “Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr will ich leben.” Verharren wir zur sehr beim Blick in die Vergangenheit, dann versperren wir uns bloss den Blick in die Zukunft, in das, was hinter der heutigen Realität als Utopie liegen könnte. “Eine
Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen
Blick”, sagte der irische Schriftsteller Oscar Wilde, “denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.
Und wenn die Menschheit dort angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren
Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von
Utopien.” Vieles deutet darauf hin, dass wir uns in einer Art “Zeitenwende” befinden. Die gegenwärtigen Probleme und Bedrohungen von weltweit kriegerischen Auseinandersetzungen bis hin zur Gefahr eines dritten, möglicherweise atomaren Weltkriegs, von Armut, Hunger und sozialer Ungleichheit bis zum Klimawandel mit seinen unabsehbaren zerstörerischen Folgen für nachfolgende Generationen, alle die Probleme und Bedrohungen scheinen uns immer mehr über den Kopf hinauszuwachsen und es wird immer deutlicher, dass die bisherigen Lösungsversuche je länger je weniger genügen, um dies alles in den Griff zu bekommen. Oder, wie es Albert Einstein sagte: “Probleme lassen sich niemals durch die gleiche Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Der Blick in die Vergangenheit hat endgültig ausgedient, es braucht den Blick in die Zukunft. Mehr denn je brauchen wir die Kraft der Vision, der Utopie, dieses fernen Landes, hinter dem stets wieder ein noch besseres, noch schöneres Land verborgen liegt, ein Land, in dem Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Frieden und ein gutes Leben für alle nicht mehr bloss schöne Worte sind, sondern Wirklichkeit. “Konzentriere nicht alleine deine ganze Kraft auf den Bekämpfen des Alten”, sagte schon der griechische Philosoph Sokrates, “sondern darauf, das Neue zu formen.” Und auch Albert Einstein sagte: 
„Was für eine Welt könnten
wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau
einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären
hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu
verhelfen.“ Wie tragisch, dass ausgerechnet in einer Zeit, da Visionen und positive Zukunftsvorstellungen wichtiger wären denn je, diese in der grossen öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielen oder oft sogar als “naiv” und “gutgläubig” ins Lächerliche gezogen werden. Kein Wunder, sehen wir an der Stelle hoffnungsvollen Zukunftsglaubens bei viel zu vielen Menschen Resignation, Verzweiflung, Rückzug aus allem, was mit Politik und Zukunftsarbeit zu tun hat. Doch in uns allen, die heute so oft einsam und verzweifelt sind, steckt, da bin ich mir ganz sicher, allem zum Trotz die unendliche Sehnsucht nach einer Welt, in der alles ganz anders ist. Vielleicht ist alles noch ein bisschen zu früh, aber irgendwann wird es kommen. 
“Wir
malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft
von der wir träumen, “so die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, “das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir
wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie
kommen.” Und wer erinnert sich an dieser Stelle nicht auch an das unvergessliche Zitat des brasilianischen Erzbischofs 
Dom Hélder Câmara: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein
Traum; wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“