Medien zeigen fast immer nur Einzelereignisse und Einzelbilder – tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen…

 

Sarla Devi, so berichtet das deutsche Magazin “Spiegel” am 1. Juni 2022, ist 38 Jahre alt. Sie hat drei Töchter im Alter von zwölf, acht und sechs Jahren. Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie in einer Hütte mit zwei Zimmern in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Devis Mann ist Gemüseverkäufer, sie selbst Bauarbeiterin. Jeden Morgen steht sie früh auf, räumt das Haus auf, macht die Kinder für die Schule bereit. Dann geht sie zur Baustelle. Schon am Morgen ist es extrem heiss, bis am Mittag klettert das Thermometer auf bis zu 50 Grad. “Manchmal”, berichtet Sarla, “fühlt es sich bei der Arbeit auf der Baustelle an, als würde die Strasse in Flammen stehen. Einige meiner Kolleginnen haben bereits Hitzekrämpfe erlitten, sind zusammengebrochen, dehydriert, sie verlieren zu viele Elektrolyte durch das Schwitzen. Ich nehme deshalb jeden Tag ein paar Zitronen mit auf die Baustelle, die presse ich aus und mische den Saft mit Wasser, das erfrischt ein wenig. Ich habe ja gar keine andere Wahl, muss mich durch den Alltag quälen.” Sarlas Arbeit auf der Baustelle besteht vor allem darin, Metallboxen hin- und herzutragen. Die Arme schmerzen schon nach ein paar Stunden immer stärker: “Jeden Tag, da gewöhnt man sich nicht dran. Ich arbeite, solange mein Körper durchhält. Früher, vielleicht vor zehn Jahren, ging mir die körperliche Arbeit noch leichter von der Hand. Heute, wenn ich abends nach Hause komme, bin ich todmüde wie ein Hund.” Doch auch in der Nacht dauert die unerträgliche Hitze an. Und nachts fühlt man zugleich die Luftfeuchtigkeit, die sich auf alles legt wie ein Schleier. Irgendwann, während ihre Kinder immer noch weinen, findet Sarla vor lauter Erschöpfung dann doch noch den Schlaf, für vielleicht vier bis fünf Stunden pro Nacht, um am nächsten Morgen schon total erschöpft wieder zur Baustelle zu gehen. “Das Leben in dieser Stadt”, sagt sie, “ist eben eine einzige grosse Anstrengung.” Doch was für Sarla Devi und ihre Familie bitterster Alltag ist, sieht für einen anderen Teil der indischen Bevölkerung, die in unvorstellbarem Reichtum schwelgt, so ganz und gar anders aus: Anfangs Dezember 2018, so berichtet der “Spiegel” am 12. Dezember 2018, ging in Udaipur, einer im 16. Jahrhundert erbauten indischen Stadt, eine Hochzeitsfeier über die Bühne, welche zweifellos sämtlichen  noch so romantischen Märchenbüchern aller Zeiten Konkurrenz zu machen vermochte. Eingeladen hatte Mukesh Ambani, mit einem Vermögen von 40 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt. Das Hochzeitsfest für seine Tochter liess er sich rund 100 Millionen Dollar kosten, für insgesamt 5100 Gäste, inklusive Auftritt der Sängerin Beyoncé, die Miete von mehr als tausend Luxuslimousinen und die täglich 40 bis 50 Flugzeuge, mit denen die Gäste aus aller Welt anreisten. Sarla Devi und Mukesh Ambani – zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, im gleichen Land. Doch ist das alles andere als ein Zufall, höchstens ein besonders extremes Beispiel. Die Hölle und das Paradies gibt es nebeneinander in jedem kapitalistischen Land, nur sind die beiden Welten nicht überall gleich weit voneinander entfernt. Wo es Reichtum gibt, gibt es Armut, und umgekehrt, das eine bedingt das andere. Kein Mensch kann bloss aufgrund ehrlicher und harter Arbeit ein Vermögen von 40 Milliarden Dollar anhäufen, das geht nur, indem man sich an möglichst gewinnbringenden Finanzgeschäften und Unternehmen beteiligt, die aus ihren Arbeitern und Arbeiterinnen sowie aus Rohstoffen und dem Verkauf von Fertigprodukten einen möglichst hohen Profit herausschlagen. Umgekehrt könnten Sarla Devi und ihre Arbeitskolleginnen sich selbst fast zu Tode schuften – dennoch würden sie zeitlebens in bitterster Armut verharren. Wer arm ist, bleibt arm. Und wer reich ist, steigt so oft noch viel höher hinauf, vermehrt sich das einmal zusammengeraffte Geld doch in immer noch kürzeren Abständen um ein immer grösseres Vielfaches. Auch die Baufirma, für die sich Sarla Devi kaputtarbeitet, wird zweifellos ihre Schäfchen ins Trockene bringen, und eines Tages werden über die neu erstellte Strasse wohl schon bald die Luxuskarossen der städtischen Oberschicht rollen und niemand, aber garantiert niemand von all denen, die in ihren vollklimatisierten Fahrzeugen am Steuer sitzen, werden nach den Namen jener Frauen fragen, die beinahe gestorben wären, um diese Strasse zu bauen. “Kapitalismus tötet!”, sagte Papst Franziskus. Wie Recht er hat! Es ist ein stiller Tod, ein unheimlicher Tod, ein unsichtbarer Tod, der noch immer von der alles beherrschenden Lüge verschleiert wird, es stünde ja jedem Menschen frei, reich und erfolgreich zu werden, wenn er sich bloss genug anstrenge. Dabei ist es doch mehr als offensichtlich: In unzähligen Kreisen, grösseren und kleineren, sich gegenseitig ineinander verstärkenden, ist alles beherrscht von Mechanismen der Ausbeutung und des Herausquetschens des grösstmöglichen Profits aus der Natur und den arbeitenden Menschen. So wie sich die vermögende Oberschicht Indiens durch das Elend von Millionen von Landarbeitern, Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnern und Bauarbeiterinnen wie Sarla Devi bereichert, so bereichern sich wiederum reiche Industrieländer wie die Schweiz durch die Wirtschaftsbeziehungen mit den ärmeren so genannten “Entwicklungsländern”, die grösstenteils auf den Export billiger Nahrungsmittel und Rohstoffe angewiesen sind: Fast 50 Mal so hoch ist der Profit, den die Schweiz im Handel mit “Entwicklungsländern” erzielt, als die Summe, welche die Schweiz diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Und wie wenn das alles noch nicht genug wäre, ist jetzt noch die Klimaerwärmung die letzte, gewalttätigste und grausamste Form der kapitalistischen “Tötungsmaschine”: Genau jene Länder der nördlichen Hemisphäre, die den grössten Anteil an CO2-Emissionen verursachen, vom Klimawandel selber aber noch am wenigsten betroffen sind, halten, als wäre nichts gewesen, unverrückbar am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums fest, während rund 3,5 Milliarden Menschen in der südlichen Hemisphäre schon heute von den Folgen des Klimawandels existenziell betroffen sind. Sarla Devi und Mukesh Ambani: Für gewöhnlich – egal ob in der Zeitung, am Fernsehen oder im Internet – wird stets nur das einzelne Ereignis, die einzelne Nachricht, das einzelne Bild gezeigt, ganz so, als hätten diese Ereignisse, Bilder und Nachrichten nichts miteinander zu tun, ganz so, als wäre die Welt bloss eine Welt voller Zufälligkeiten, ein Würfelspiel, in dem Glück und Unglück immer wieder neu verteilt werden. Wir sehen eine indische Strassenarbeiterin bei 43 Grad kurz vor dem Kollaps. Aber wir sehen nicht ihren Chef, der gleichzeitig in seinem vollklimatisierten Büro sitzt, eine Tasse Tee schlürft und am Ende des Tages einen zehn Mal höheren Lohn kassiert als die Strassenarbeiterin. Wir sehen und hören von Börsengewinnen, von wirtschaftlichen Erfolgsbilanzen und von steigenden Bruttosozialprodukten. Aber wir sehen nicht den Schweiss, das Blut und die Tränen der sich zu Tode rackernder Menschen, die sich hinter allen diesen Erfolgsmeldungen verbergen und diese überhaupt erst möglich gemacht haben. Tatschlich aber hat alles mit allem zu tun und nichts ist bloss Zufall. Alle diese Verbindungen aufzudecken, die tieferen Ursachen von Armut, Hunger und Elend aufzuspüren, Zusammenhänge von Abhängigkeiten und Ausbeutung sichtbar zu machen – wäre dies nicht die wichtigste, ja geradezu unverzichtbare Aufgabe von Medienschaffenden im Blick auf eine Überwindung aller Ausbeutung, aller sozialer Ungerechtigkeit und aller Gewalt über alle Grenzen hinweg? Eigentlich wäre es gar nicht so kompliziert. Denn es geht schlicht und einfach nur um eines: um die Wahrheit. Darum, sich nicht zufrieden zu geben mit der erst besten Antwort, darum, nicht lockerzulassen, sondern allem bis zum Äussersten auf den Grund zu geben, darum, weder den Armen bloss zu bemitleiden und den Reichen bloss zu bewundern, sondern keine Ruhe zu geben, bis alles, wirklich alles aufgedeckt ist, was Ungerechtigkeiten, Abhängigkeiten und Bevormundung zu erklären vermag. “Die Wahrheit zu sagen”, so der US-amerikanische Autor Andrew Vachss, “ist so subversiv, wie es nur geht. Der subversivste Akt, den man begehen ist, wenn man den Menschen die Wahrheit sagt. Denn was, wenn nicht die Wahrheit, soll die Macht haben, das Unrecht zu untergraben?”