Markus Lanz: Viele Wortgefechte, ein Krieg im Kleinen – aber wenig Erkenntnisgewinn…

 

Nein, es ist nicht einfach, als Einzige in einer Gesprächsrunde Meinungen zu vertreten, die von allen anderen abgelehnt werden. Dies hat einmal mehr Sahra Wagenknecht, viel geschmähte “Putinversteherin”, in der TV-Talkshow “Markus Lanz” vom 19. Mai 2022 erfahren müssen, in der Diskussion mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel, der Europa-Expertin Daniela Schwarzer und dem Journalisten Paul Ronzheimer. Nur schon der Vorwurf, Wagenknecht betreibe “Putin-Propaganda” – Vogel stellt ihn einfach so in den Raum, ist aber nicht bereit, Wagenknecht ernsthaft zuzuhören, wenn sie im Folgenden darlegt, dass es bei ihrer Haltung ganz und gar nicht um “Putin-Propaganda” gehe, sie diesen Krieg genauso verurteile, sich aber dagegen wehre, alles auf ein fixes Bild vom “bösen” Russland und dem “guten” Westen festzumachen. Doch leise, differenzierte Töne haben in einem solchen Sendegefäss offensichtlich wenig Platz. Eine wie Sahra Wagenknecht, die das gängige gemeinsame und nicht mehr länger hinterfragte Bild stören könnte, wird nicht mehr als Chance wahrgenommen, Neues zu erfahren, eigene Standpunkte zu hinterfragen, möglicherweise sogar zu einem neuen Gesamtbild zu gelangen – sie dient bloss dazu, in Widersprüche verwickelt, von allen Seiten gleichzeitig angegriffen, missverstanden und ins Lächerliche gezogen zu werden. Was bleibt der so Angegriffenen dann anderes übrig, als ebenfalls zurückzuschiessen, ebenfalls anderen ins Wort zu fallen und ebenfalls plakative Aussagen in den Raum zu stellen, auf die sich dann die anderen wiederum wie auf eine fette Beute stürzen können. Denn für vertiefende und differenzierte Zusammenhänge und historische Hintergründe ist unter solchen Vorzeichen sowieso schon längst kein Platz mehr. Sonst wäre es nämlich früher oder später an der Zeit, zum Beispiel an die Aussage des US-Historikers George F. Kennan aus dem Jahre 1997 zu erinnern, wonach die NATO-Osterweiterung einer der “verhängnisvollsten Irrtümer” sei und früher oder später Auswirkungen zeigen würde, die dem Westen “nicht gefallen” würden. Oder an die Aussage des ehemaligen US-Aussenministers Henry Kissinger aus dem Jahre 2014, wonach die Ukraine vorteilhaft nicht Bestandteil des West- oder des Ostblocks sein sollte, sondern eine “Brücke zwischen beiden Seiten”. So aber bleibt alles notgedrungen an der Oberfläche und das Ganze gleicht eher einem Tennismatch, bei dem man sich gegenseitig die Bälle um die Ohren schlägt, als einer ernsthaften Debattierrunde erwachsener Menschen, an deren Ende beide Seiten gescheiter geworden sein sollten, als sie es vorher gewesen waren. Dazu passt, dass der Gesprächsleiter im Laufe der Debatte immer mehr in die Rolle eines Meinungsträgers schlüpft, zusätzlich Öl ins Feuer giesst und nicht einmal davor zurückschreckt, in einem Nebensatz gleich noch rasch den Pazifismus mit dem Faschismus gleichzusetzen. Ja, es wird über den Krieg in der Ukraine diskutiert. Aber zugleich ist das, was hier geschieht, gar nicht viel anderes als ein Krieg im Kleinen. Statt neue Einsichten zu gewinnen, schlägt man sich im Sekundentakt gegenseitig Wortfetzen an den Kopf, aber alles ist stets nur eine Wiederholung des ewig Gleichen und der Erkenntnisgewinn liegt, auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer der Sendung, praktisch bei Null. Weshalb werden nicht neue Formate entwickelt, in denen man diesem ewig gleichen Hickhack nicht mehr so viel Raum gewähren würde? Wäre das der Einschaltquote zu sehr abträglich? Wäre es nicht dennoch einen Versucht wert? Man könnte zum Beispiel eine öffentliche Gesprächsrunde unter das Motto stellen: Wie kann der Frieden gewonnen werden? Alle Teilnehmenden wären dazu aufgerufen, nicht mehr rechthaberisch ihre Wahrheit zu verkünden, sondern ihre kreativsten Ideen für eine friedliche Lösung des Konflikts zu entfalten. Niemand würde mehr niemandem ins Wort fallen, weil alle erfahren und herausfinden möchten, was die anderen denken und über was für ein neues, noch nicht erschlossenes Wissen sie verfügen. Man würde sich die Bälle nicht mehr um die Köpfe schlagen, sondern aus ihnen gemeinsam ein neues Haus aufbauen. “Jedes gute Gespräch”, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.” Eine solche “Talkshow” wäre dann nicht mehr bloss ein Abbild des Kriegs, sondern Zeichen eines echten Neubeginns, von dem alle, die auf der “guten” wie auch die auf der “bösen” Seite, gleichermassen profitieren könnten…