Man kann nicht die Armut bekämpfen, ohne gleichzeitig auch den Reichtum zu bekämpfen

«Wie die Menschheit Armut besser bekämpfen kann» – so der Titel eines Berichts im Tages-Anzeiger über die drei Preisträger des diesjährigen Wirtschaftsnobelpreises, Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer. Die drei Ökonomen hätten wesentlich dazu beigetragen, dass Armut weltweit bekämpft werden könne, begründete die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften ihren Entscheid. Duflo und Kremer haben einen neuen Ansatz eingeführt, um das Wesen der Armut besser zu verstehen. Einfach gesagt, geht es darum, das komplexe Thema in kleine und überschaubare Fragestellungen zu unterteilen. Zum Beispiel: Wie können Kinder und Jugendliche eine bessere Bildung erlangen? Wie lässt sich die Gesundheit von Kindern verbessern? Ähnliche Studien führte Banerjee durch und befasste sich dabei insbesondere mit der Vergabe von Mikrokrediten zwecks Bekämpfung der Armut.

(Tages-Anzeiger, 15. Oktober 2019)

Interessant, dass für solche Erkenntnisse, die eigentlich längstens schon Allgemeinplätze sind, gleich ein Nobelpreis verliehen wird. Und dies, obwohl man eigentlich schon lange weiss, dass bessere Schulbildung oder eine besondere Gesundheitsversorgung zwar für die davon Betroffenen ein Segen sind, insgesamt aber das Grundproblem der Armut bei weitem nicht zu lösen vermögen. Dieses Grundproblem muss man eben gerade nicht in «kleine und überschaubare Fragestellungen» aufteilen, sondern im Gegenteil als globales Gesamtphänomen betrachten. Und dieses globale Gesamtphänomen besteht darin, dass in gleichem Masse, wie die Armut der Armen zunimmt, eben auch der Reichtum der Reichen zunimmt – die unaufhörliche kapitalistische Umverteilung, die darin besteht, dass die Reichen nur deshalb immer reicher werden, weil die Armen immer ärmer werden, und umgekehrt, auf welchen verschlungenen, geheimnisvollen und unsichtbaren Wegen auch immer. Reichtum und Armut sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Medaille. Um auf den Titel obigen Artikels zurückzukommen: Man kann nicht die Armut der Armen bekämpfen, ohne gleichzeitig auch den Reichtum der Reichen zu bekämpfen. Dies bedingt eine Abschaffung sämtlicher Ausbeutungsmechanismen, sei es in jedem einzelnen Land, aber auch von Land zu Land, sprich: eine Überwindung des weltweit herrschenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.