Wohnungsnot in Deutschland: «Man fühlt sich so alleine gelassen»

Ca. 420’000 Menschen in Deutschland, doppelt so viele wie vor zehn Jahren, haben keine Wohnung. Zehn Prozent von ihnen sind berufstätig. Die Wohnungsmieten haben sich in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich verdoppelt. Eine dieser 420’000 Menschen ist die 49jährige Corinna. «Ich arbeite sehr hart», sagt sie, «und ich habe in meinem Leben immer schon sehr viel gearbeitet.» Corinna hat eine Stelle als Reinigungskraft bei der Deutschen Bahn und verdient 1300 Euro. Dass sie keine Wohnung hat, belastet sie Tag und Nacht: «Ich schäme mich, fühle mich wie ein anderer Mensch. Meine Kollegen waren geschockt, als ich ihnen sagte, dass ich jetzt in einem Wohnheim bin. Man fühlt sich so alleine gelassen.» Trotz Überstunden bleibt am Ende zu wenig für eine Wohnung auf dem freien Immobilienmarkt: «Die Wohnungen sind einfach zu teuer. Wenn die Miete 800 Euro kostet, was bleibt mir da noch zum Leben.» Corinna hat grosse Angst, auf der Strasse zu landen und vielleicht sogar noch den Job zu verlieren: «Das kann ganz schnell gehen.» Die Wohnsituation im Heim, zuerst als Notlösung gedacht, ist zu einem belastenden Dauerzustand geworden. Auf Corinnas Etage wohnen weitere acht Frauen. Dusche und Toilette teilen sie sich: «Mir fehlt die Privatsphäre. Zickenkrieg. Neid. Missgunst. Das ist das Schlimme. Und es ist immer Lärm. Das ist einfach kein Zuhause.» Corinnas Dilemma: Für eine Wohnung auf dem freien Immobilienmarkt verdient sie zu wenig, für eine Sozialwohnung hingegen zu viel. «Ich verdiene mein Geld hart», sagt Corinna, «und ich denke, mir müsste eigentlich eine Wohnung zustehen, ich zahle auch jeden Monat Steuern, und nicht zu wenig, jeder hat doch das Recht auf Wohnen.»

(Fernsehen ZDF, «37°», 30. April 2019)

Wie heisst es so schön: Der freie Markt erfüllt die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen, indem er für jede Nachfrage ein passendes Angebot schafft. Schön wäre es. In der Realität aber ist es genau umgekehrt: Überlässt man die sozialen und wirtschaftlichen Abläufe dem freien Markt, dann entfernen sich Angebot und Nachfrage immer weiter auseinander und selbst in einem so «fortschrittlichen» Land wie Deutschland werden immer häufiger nicht einmal mehr die elementarsten Lebensbedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger erfüllt. Höchste Zeit für einen radikalen Kurswechsel, weg vom Kapitalismus mit seiner unersättlichen Profitgier, hin zu einem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, in dem an erster Stelle die soziale Gerechtigkeit und die Gesundheit, das Wohlergehen, das Selbstwertgefühl und die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen stehen…