Lohngefälle von 300:1 – ein gigantischer Systemfehler

 

M.K., so berichtet das “Tagblatt” vom 19. Mai 2022, ist gelernter Maurer. Er liebt sein Handwerk über alles. Aber die fehlenden Lohnerhöhungen und der steigende Zeitdruck machen ihm immer mehr zu schaffen. Morgens um 7 Uhr beginnt er sein Tageswerk, die Regel sei ein 9-Stunden-Tag, im Sommer könnten es gut auch 11 Stunden sein. Während der einstündigen Mittagspause schlafe er drei Viertel der Zeit, weil er “so kaputt” sei. Für Hobbys bleibe keine Zeit und kaum Geld. M.K. verdient 5700 Franken im Monat. Er habe keine Ahnung, wie Familienväter mit so wenig Geld über die Runden kämen. Solange er die Baumeister mit “grossen Karren” herumfahren sehe, die Auftragsbücher übervoll seien und alles immer teurer werde, solange würde M.K. weiterhin für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn kämpfen. Mit wenig Aussicht auf Erfolg: Obwohl das Jahr 2022 puncto Lohn das schlechteste seit 40 Jahren ist und die Reallöhne bei einer Teuerung von 2,5 Prozent um ein Prozent gesunken sind, werden Forderungen nach Lohnerhöhungen seitens der Arbeitgeber stets mit dem Argument abgeblockt, gestiegene Kosten könnten nicht in Form von höheren Preisen an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben werden. Ein weiteres Argument, das gegen Lohnerhöhungen ins Feld geführt wird, ist, diese würden die Inflation anheizen, was unbedingt zu vermeiden sei. Was für eine stossende Ungerechtigkeit: Wer ein Produkt verkauft, bestimmt den Preis – der Kundin bleibt nur die Wahl, es zu kaufen oder nicht. Wer hingegen seine Arbeitskraft – und damit sozusagen sich selber – verkauft, muss sich damit abfinden, dass andere über den Wert dieser Arbeitskraft entscheiden und nicht der oder die, welche sie zur Verfügung stellt. Dieses Missverhältnis zeigt sich auch in den Begriffen des “Arbeitgebers” und der “Arbeitnehmerin”: Als würde die Firma in Form des Lohns etwas “geben” und die Angestellte etwas “nehmen”, wofür sie ja eigentlich dankbar sein müsse und daher auch bereit, die von oben diktierten Bedingungen zu akzeptieren. Tatsächlich aber ist es ja so, dass es die Angestellte ist, die etwas gibt, nämlich ihre Arbeitskraft, ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Geschick, ihr Talent, ihre Gesundheit – und es auf der anderen Seite der “Arbeitgeber” ist, der in Form dieser Arbeitskraft all das für sich in Anspruch nimmt, was es braucht, um seine Firma erfolgreich führen zu können und dabei erst noch einen Gewinn herauszuschlagen für andere, die an der Firma finanziell beteiligt sind, selber aber keine eigene Arbeitsleistung dafür erbringen. Zwar wird immer wieder behauptet, der Markt regle dies alles: Wo ein grosser Arbeitskräftemangel herrsche, würden die Löhne automatisch in die Höhe klettern. Nun, das mag zum Beispiel für die IT-Branche zutreffen, wo die Jagd nach Fachkräften wie Cybersecurity-Ingenieurinnen und Daten- und Cloud-Spezialisten die Löhne tatsächlich ins Unermessliche treibt. In den meisten anderen Branchen aber führt ein Arbeitskräftemangel, wenn überhaupt, nur zu äusserst moderaten Lohnzuwächsen. Das Ganze ist ein gigantischer Systemfehler: Löhne sind stets das Produkt der jeweiligen Kosten-Nutzen-Rechnung des betreffenden Betriebs. So können Banken und Versicherungsanstalten, die florieren, ihren Mitarbeitenden einen unvergleichlich viel höheren Lohn bezahlen als ein Hotel oder ein Restaurant, das, einem ständigen knallharten Konkurrenzkampf ausgeliefert, um jeden Rappen kämpfen muss. Dieses betriebswirtschaftliche Denken verschleiert aber den Blick darauf, dass in einer Volkswirtschaft alles mit allem verbunden ist und voneinander abhängt. Wenn sich der CEO einer Bank mit seinen Geschäftspartnern in einem Restaurant zu einem Arbeitsessen trifft, dann hängt der Erfolg des Geschäfts nicht zuletzt von der Dienstleistung dieses Restaurants ab, von der Qualität des Essens und der Getränke, von der Freundlichkeit der Bedienung und von der gebotenen Atmosphäre. Auch das Auto des Bank-CEOs musste von jemandem hergestellt worden sein und muss von jemandem geputzt, gewartet und repariert werden, der für seine Arbeit einen weit geringeren Lohn als jenen des CEO bekommen wird. Und so weiter. Da alle zum wirtschaftlichen Erfolg aller einen Beitrag leisten, müssten daher logischerweise auch alle einen gleichen Anteil am gesamten wirtschaftlichen Erfolg zugesprochen bekommen. In letzter Konsequenz wäre das ein Einheitslohn. Auf welchen Wegen – mit den entsprechenden Steuern und Abgaben – ein solcher zu verwirklichen wäre, das wäre ein anderes Kapitel. Durchführbar wäre es allemal, sofern der Wille dafür vorhanden wäre. Keine Frage, dass ein Einheitslohn einen enormen Motivationsschub bei all jenen Menschen auslösen würde, die heute so viel mehr und härter arbeiten und dennoch weit weniger verdienen als andere. Er wäre der beste und wirkungsvollste Ausdruck davon, dass in einer so komplexen Arbeitswelt wie der unseren eben jegliche berufliche Tätigkeit gleichermassen wichtig und wertvoll ist wie alle anderen und man auf keinen von ihnen verzichten kann, wenn das Ganze funktionieren soll. Die Idee mag heute noch utopisch klingen. Doch was ist schon normal und was ist schon verrückt in einem Land, wo die höchsten Löhne die niedrigsten um das Dreihundertfache übertreffen? Wie sagte schon Arthur Schopenhauer: „Ein
neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit
als selbstverständlich gilt.“ Noch sind wir in der Phase des Verlachens. Es kann also noch eine Weile dauern. Ausser M.K. und seine Millionen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen machen eines Tages einfach nicht mehr mit…