«Linksruck» in der SPD: Was uns fehlt, sind die grossen Visionen

Man spricht im Zusammenhang mit der Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zu Vorsitzenden der SPD von einem «Linksruck». Doch was heisst eigentlich «links»? Ist «links» schon, wenn man einen höheren Mindestlohn, eine massive Investitionsoffensive zugunsten von Infrastruktur und Bildung sowie einen rigoroseren Klimaschutz fordert? Müsste man den Begriff «links» nicht viel umfassender und radikaler definieren – im Sinne einer Überwindung des Kapitalismus, wie sie von einer wachsenden Zahl besorgter Bürger und Bürgerinnen und nicht zuletzt auch von einem zunehmenden Teil der Klimabewegung gefordert wird? Von einer solchen Vision sind Walter-Borjans und Esken noch meilenweit entfernt. Selbst die Linke bewegt sich immer noch viel zu stark auf dem Parkett des kapitalistischen Denksystems. Auch Sarah Wagenknecht, so gescheit ihre gesellschaftspolitischen Positionen auch sein mögen, ist, wenn es drauf und dran kommt, keine wirkliche Antikapitalistin. Es ist auch nicht einfach. Eine Überwindung des Kapitalismus bedingt eine Überwindung von 500 Jahren kapitalistischer Gehirnwäsche, das Hinterfragen jener Muttermilch, die uns von Geburt an eingeträufelt wurde, das Infragestellen aller Bäume in dem Wald, durch den wir seit Kindesbeinen gehen. Schade, können Neugeborene noch nicht sprechen. Ich bin fast ganz sicher, sie könnten eine ideale Welt, das Paradies ihrer Träume, in allen noch so kleinen Facetten beschreiben: eine Welt ohne Krieg und Hunger, eine Welt grenzenloser Liebe, eine Welt, in der Geld nicht mehr ein Machtmittel, sondern nur noch ein Tauschmittel wäre, eine Welt, in der sämtliche Waren innerhalb der Länder, aber auch von Land zu Land getauscht würden, ohne dass es dabei Gewinner und Verlierer gäbe, eine Welt, in der alle Menschen den gleichen gerechten Anteil hätten an sämtlichen Lebensgütern, Besitztum und Wohlstand, eine Welt der Kooperation anstelle von Konkurrenzkampf und Wettbewerb, eine Welt, in der die Menschen untereinander und mit der Natur im Einklang leben. Liebe Politiker und Politikerinnen, weshalb tut ihr euch so schwer, weshalb habt ihr solche Bedenken, solche Angst, an radikale Visionen von einer anderen Welt zu glauben? Wären solche Visionen nicht genau das, was in der heutigen Zeit, wo sich alles nur noch im Kreis zu drehen scheint, so schmerzlich fehlt? Ich hätte einen Vorschlag: SPD, Linke und Grüne, legt eure gegenseitigen Schauklappen ab, spannt zusammen, wagt euch auf den Weg zur Überwindung des Kapitalismus, im Bunde mit weltweit gleichgesinnten politischen Kräften. Ich bin fast ganz sicher: In Millionen von Menschen würde dadurch genau jenes Kind, das bei seiner Geburt noch vom Paradies träumte, neu erwachen, und zahllose Menschen, die mit der gängigen Politik nichts mehr am Hut haben wollten, würden zu glühenden Wegbereitern und Wegbereiterinnen einer neuen Zeit.