Lieferdienste, in Flaschen pinkelnde Velokuriere und die “plötzliche Lust” der Konsumentinnen und Konsumenten

 

Der Genfer Lieferdienst Smood ist, wie die “Wochenzeitung” am 18. November 2021 berichtet, eine “Erfolgsgeschichte” und hat seit 2015 ein rasantes Wachstum hingelegt. Ein Schweizer Unternehmen, das es mit den ganz Grossen auf dem Markt aufnehmen kann, zum Beispiel mit Uber eats und Just Eat aus den Niederlanden. Weniger rosig sieht es für die Menschen aus, die für Smood arbeiten. Eine Lohnabrechnung, so die “Wochenzeitung”, hätte Farès Doudouhi noch nie gesehen. Ende August seien ihm 180 Stunden vergütet worden, obwohl er nach eigenen Berechnungen 195 Stunden gearbeitet hätte. Hinzu käme die Zeit, während der Doudouhi auf Aufträge gewartet habe: Sie werde nicht bezahlt, genau so wenig wie die Autoreparatur, die er im selben Monat in Auftrag geben musste. Weitere Kosten würden für Benzin anfallen. Alle diese Auslagen vergüte Smood mit gerade mal 32 Rappen pro Stunde. Insgesamt seien ihm im August 4247 Franken ausbezahlt worden, nach Anzug aller Auslagen seien ihm am Ende gerade mal noch 3000 Franken geblieben, und dies bei 50 Stunden Arbeit pro Woche. Doch es würde zu kurz greifen, nur einzelne Unternehmen wegen schlechter Arbeitsbedingungen an den Pranger zu stellen. An den Pranger zu stellen, ist in erster Linie nicht Smood noch Hey Migrolino, weder Stash noch Eat CH, weder Just Eat noch Shoplino und wie die Lieferdienste, die seit Jahren wie die Pilze aus dem Boden schiessen, alle heissen. An den Pranger zu stellen ist das System als Ganzes, die Idee der “Freien Marktwirtschaft”, das Prinzip des Konkurrenzkampfs aller gegen alle. Ein gegenseitiger Vernichtungsfeldzug mit gigantischen Kollateralschäden. Immer schneller, immer billiger, das ist die Devise. Und wer da nicht mithalten kann, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Ein Motor, der alles bis zum äussersten Exzess weitertreibt, Kuriere, die sich im Wettlauf mit der Konkurrenz fast zu Tode strampeln und unterwegs in mitgenommene Flaschen pinkeln, weil der Zeitdruck gelegentliche Pausen gar nicht zulässt. Doch nicht nur Hauslieferdienste sind einem gnadenlosen Konkurrenzkampf um die Gunst der Kundschaft ausgeliefert, ebenso Hotels und Restaurants, Handwerksbetriebe, Autowerkstätten, Frisiersalons und so weiter und so weiter. Und stets lautet die Devise: immer schneller, immer billiger. Doch damit dieses ganze zerstörerische Spiel nicht ein Ende findet, braucht es nicht nur die Unternehmen, welche Dienstleistungen anbieten. Es braucht ebenso die Kundinnen und Kunden, die das Spiel mitmachen, indem sie in aller Regel stets das billigste und schnellste Angebot wählen, ohne sich der Folgen, die sie damit anrichten, bewusst zu sein. Mit dem Sprung ins Internet und dem immer schnelleren Zugang zu einer Riesenpalette von Angeboten aller Art hat sich eine “Konsumkultur” entwickelt, die darauf beruht, dass einem sozusagen rund um die Uhr die ganze Welt zur Verfügung steht. Christa Wahlstart, Sprecherin des Lieferdienstes Avec nous, sagt: “Wir liefern Dinge, die einem gerade noch fehlen oder auf die man plötzlich Lust hat.” Je nachdem, ob man ein Velokurier ist, der in eine Flasche pinkelt und im Grossstadtverkehr sein Leben riskiert, oder ob man für seine Party eine Pizza, Chips und Bier bestellt, sieht diese “plötzliche Lust” höchst unterschiedlich aus. Und noch einmal anders sieht die “plötzliche Lust” für jene Unternehmer, Firmenbesitzerinnen und Aktionäre aus, denen die Firmen gehören. So hat der Gründer des Lieferdienstes Smood, Marc Auschlimann, gemäss Wirtschaftsmagazin “Bilanz” heute ein Vermögen von 150 bis 200 Millionen Franken. Alles herausgestrampelt aus knochenharter Arbeit von Kurierinnen und Kurieren und der “plötzlichen Lust” Abertausender Konsumentinnen und Konsumenten. So ist das, im Kapitalismus. So lange alle mitmachen, niemand das Spiel unterbricht und alle ungebrochen daran glauben, dass nur das gut ist, was möglichst schnell und möglichst billig ist…