Larissa und die Pferde die von Wolke zu Wolke flogen

Kaum hat der Tag begonnen, brennt das Feuer im Rücken auch schon wieder. Die achtzehnjährige Larissa, mitten in der Ausbildung zur Bereiterin, stösst nach dem Ausmisten der Pferdeställe eine Schubkarre voller Pferdemist über den Hof. „Aber das geht doch auch im Laufschritt, oder nicht?“, brüllt ihr Chef von der anderen Seite des Hofes herüber, „trödeln kannst du, wenn dein Arbeitstag zu Ende ist.“ Larissa beisst auf die Zähne und setzt zum Laufschritt an, quer über den ganzen Hof, mit einer Schubkarre voller Pferdemist, die sich anfühlt wie eine Tonne Zement. Und das noch weitere fünf Mal – ihr Chef schaut zu und scheint sich über den Anblick geradezu zu amüsieren.

Zwölf Stunden später, nach einer Mittagspause von einer halben Stunde und nachdem sie vier Tonnen Heuballen ganz alleine abladen musste, fragt sich Larissa einmal mehr, wie sie das alles bis zum Ende ihrer Ausbildung durchstehen soll. Hundemüde setzt sie sich ans Steuer ihres Autos, muss jetzt noch fast 20 Kilometer bis nachhause fahren. Am schlimmsten ist die Müdigkeit jedes Mal in diesem grauslichen, viel zu langen Tunnel, wenn dann auch noch stinkende Abgase ins Innere des Fahrzeugs dringen…

Und schon ist es passiert – ein ohrenbetäubendes Krachen weckt Larissa aus ihrem Sekundenschlaf, wie im schlimmsten aller möglichen Träume sieht sie die Tunnelwand unmittelbar hinter dem Fenster des Beifahrersitzes vorbeirauschen und gerade noch kann sie das Steuer herumreissen, um das Allerschlimmste zu verhindern. Mit kreischenden Bremsen ist das Auto hinter ihr gerade noch zum Stillstand gekommen. Erbarmungsloses Hupen im tausendfachen Echo des von Scheinwerfern wie von Blitzen durchzuckten Tunnels durchdringt, als wäre nicht alles Bisherige schon schlimm genug, Larissa bis ins Innerste, dazwischen eine ebenso bedrohlich klingende Männerstimme, die fast so klingt wie die Stimme ihres Chefs heute Morgen, ob es denn nicht auch im Laufschritt ginge, zum Trödeln sei allemal später noch genug Zeit…

Eigentlich hätte sich Larissa von diesem Schock wenigstens einen Tag lang ein wenig erholen müssen. Aber nicht mitten in der Ausbildung zur Bereiterin. Und schon gar nicht mit diesem Chef, den sie, hätte sie sich am nächsten Tag kurzfristig von der Arbeit abgemeldet, wohl zur Weissglut getrieben hätte und wahrscheinlich auch dazu, ihr dies noch tagelang vorzuhalten und sie vielleicht noch mehr zu schikanieren, als er dies sowieso schon jeden Tag tat.

Die Ausbildung zur Bereiterin dauert drei Jahre und ist nicht nur körperlich, sondern auch was psychologisches, naturwissenschaftliches und medizinisches Wissen betrifft, höchst anspruchsvoll. Zu den täglichen Arbeiten gehören das Füttern, Tränken, Putzen und Bewegen der Tiere wie auch die Versorgung kranker und verletzter Pferde, das Anlegen von Bandagen zum Schutz der Gelenke, das Auskratzen der Hufe, das Bürsten und Striegeln, das Sauberhalten der Ställe, der Ausrüstung und der Anlagen. Die zukünftige Bereiterin muss die Tiere in verschiedensten Reit- und Dressurtechniken trainieren und ihnen die verschiedenen Gangarten beibringen können. Sie muss Fohlen und Stuten nach der Geburt adäquat versorgen können und, als etwas vom Wichtigsten, zu jedem Tier ein persönliches Vertrauensverhältnis aufbauen. Auch das Longieren der Tiere gehört zu ihren Aufgaben, ebenso wie auch das tiergerechte und nicht ungefährliche Verladen und Transportieren. Auch muss sie sich in der individuellen Tierfütterung, in Tier- und Umweltschutzfragen sowie in der Gesundheitsvorsorge und im – überaus anspruchsvollen – Erkennen von Krankheitsbildern ebenso auskennen wie in Zuchtmethoden, Besamungstechniken, Hygienemassnahmen und Fragen des Weidemanagements. Sie muss fähig sein, Pferde für Ausstellungen, Prüfungen und Wettkämpfe vorzubereiten. Und sie muss in der Lage sein, Reiterinnen und Reiter in Bezug auf Anlagebewirtschaftung, Planung und Durchführung von Ausbildungsmassnahmen und Grunderziehung des Pferdes professionell zu beraten. Zu alledem muss die zukünftige Bereiterin auch noch die Kunst des Voltigierens beherrschen, akrobatische Kunststücke auf dem Pferderücken, stets verbunden mit der Gefahr abzustürzen und sich schwere Verletzungen zuzuziehen.

Doch trotz aller dieser immensen Anforderungen ist die Bereiterin, hat sie ihre Ausbildung erst einmal erfolgreich abgeschlossen, mit einem durchschnittlichen Monatslohn von 3500 Franken und Tiefstlöhnen von 2700 bis 2800 Franken bei bis zu 50 Arbeitsstunden pro Woche einer der am schlechtesten bezahlten Jobs in der Schweiz.

Und das alles nur, damit dann sonntags die Schönen und Reichen aus der Stadt ihre gesunden, wunderschön glänzenden, perfekt trainierten Pferde ausreiten können, wie Königinnen und Prinzen dies schon seit Jahrhunderten tun, hoch über dem gewöhnlichen Volk thronend. Wer bei alledem immer noch behauptet, so etwas wie die Klassengesellschaft gehöre doch schon längst der Vergangenheit an, hat sich wahrscheinlich kaum je Gedanken darüber gemacht, wie es frühmorgens, wenn die Schönen und Reichen noch schlafen, in all den Ställen und auf all den Höfen landauf landab zu- und hergeht, wo nicht nur Larissa, sondern noch viele, viele andere im Laufschritt Schubkarren mit zentnerschwerem Pferdemist vor sich herschieben und am Abend so kaputt sind, dass sie in grauslich langen, stinkenden Tunnels auch unter grösster Anstrengung ihre Augen nicht mehr offen zu halten vermögen.

Ob Larissa ihre Lehre zu bringen wird? An manchen Tagen glaubt sie daran, an anderen nicht. Nur manchmal denkt sie ein bisschen wehmütig an die Zeit zurück, als sie sich jeden Abend mit ihrem Spielpferdchen aus Plüsch in ihr Bett verkroch, in ihrem Kinderzimmer voller Pferdebilder an allen Wänden, eines schöner als das andere, und fast jede Nacht davon träumte, eine kleine Prinzessin zu sein auf einem schneeweissen, von Wolke zu Wolke fliegenden Pferd.