“Die Ära der grossen Anti-WEF-Proteste ist vorbei”, schreibt die “Sonntagszeitung” am 19. Januar 2025, “was gewiss damit zusammenhängt, dass sich der globale Handel entgegen früherer Befürchtungen insgesamt als Erfolgsrezept und als regelrechtes Wirtschaftswunder erwiesen und einigen Ländern einen spektakulären Aufstieg ermöglicht hat.”
Was für eine unglaubliche Schönfärberei. Dass der globalisierte Kapitalismus ein Erfolgsrezept sein soll, gilt doch, wenn überhaupt, bloss für eine winzig kleine Seite der Medaille. Die andere, ungleich viel grössere, ist, dass in einer Welt, an deren einem Ende sich eine nie dagewesene Fülle an Luxus auftürmt, nach wie vor am anderen Ende jeden Tag rund 15’000 Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, nicht weil weltweit insgesamt zu wenig Nahrung zur Verfügung stünde, sondern schlicht und einfach deshalb, weil im globalisierten Kapitalismus die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sich mit ihnen am meisten Geld verdienen lässt. Zudem wüten an diesem anderen, viel grösseren Ende der Welt zurzeit rund 60 fürchterliche Kriege, mehr denn je seit 1945, und in den meisten von ihnen ist es immer auch ein Kampf um stets knapper werdende Rohstoffe, welche vom Wachstumswahn der kapitalistischen Wirtschaftsideologie in immer grösserem Ausmass verschlungen werden. An diesem anderen Ende der Welt sind zurzeit auch rund 100 Millionen Menschen auf der Flucht, ebenfalls mehr denn je, viele von ihnen werden vom tunesischen Militär in die libysche Wüste gejagt, wo sie elendiglich verdursten, andere versinken namenlos im Mittelmeer oder im Ärmelkanal, wieder andere liegen bei Minustemperaturen mit gebrochenen Armen und Beinen in Wäldern und Sümpfen im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet, und auch dies alles nur deshalb, weil das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern im Zuge der kapitalistischen Globalisierung immer grösser wird und infolge der ebenfalls durch kapitalistisches Profitstreben verursachten Klimaerwärmung in zahlreichen Ländern des Südens die Landwirtschaftserträge mehr und mehr zurückgehen und nur schon das nackte Überleben immer mehr in Frage gestellt ist. In dieser angeblich von kapitalistischem Erfolgsrezept geprägten Welt, in der gerade wieder innerhalb von nur einem Jahr das Vermögen sämtlicher weltweiter Milliardäre drei Mal stärker gewachsen ist als im Jahr zuvor, die zehn reichsten Milliardäre pro Tag um 100 Millionen US-Dollar reicher geworden sind und den Menschen immer noch die Lüge eingetrichtert wird, Reichtum können geschaffen werden, ohne gleichzeitig auch Armut zu schaffen.
Dass die Proteste gegen das WEF leiser geworden sein sollen, weil sich der globalisierte Kapitalismus als Erfolgsmodell erwiesen hätte, ist reines Wunschdenken jener, die immer noch auf der kleineren, schönen Seite der Medaille sitzen. Der tatsächliche Grund ist indessen genau das Gegenteil: Dass es gerade an allen Ecken und Enden brennt und die, welche mit ihrer ganzen Leidenschaft für eine friedlichere und gerechtere Zukunft kämpfen, halt schlicht und einfach nicht überall gleichzeitig sein können. Dass der globalisierte Kapitalismus insgesamt ein nie dagewesenes Erfolgsmodell sein soll, können wirklich nur all jene behaupten, welche die Welt ausschliesslich von oben sehen und offensichtlich immer noch nicht mitbekommen haben, dass das, was von oben wie der Himmel aussieht, von unten gesehen nichts anderes ist als die Hölle.