Leben im Kapitalismus ist wie Leben in einer Sekte

Weiss jemand, der in einer Sekte ist, dass er in einer Sekte ist? Woher weiss ich denn, ob ich autonom handle? Was bedeutet es konkret, frei zu sein? Wie viele unserer Überzeugungen sind eigentlich unsere eigenen? Wie viel haben wir wirklich selber entschieden?

(Tristan Harris, ehemaliger Google-Mitarbeiter, in: TAM, 2. März 2019)

Das Gleiche kann man vom Kapitalismus sagen: Weiss jemand, der im Kapitalismus lebt, dass er im Kapitalismus lebt? Wohl kaum, denn er kennt nichts anderes. Wenn wir in einem Tannenwald geboren wurden und uns zeitlebens durch diesen Tannenwald bewegen, dann wissen wir nichts von den Wiesen, von den Bergen und von den Meeren, die jenseits dieses Tannenwalds liegen. Und würde einer mitten im Tannenwald von jenen Wiesen, Bergen und Meeren erzählen, würden wir ihn für verrückt erklären. Dass wir im Kapitalismus so leben wie wenn wir in einer Sekte leben würden – daran ändert auch der Umstand nichts, dass wir heute weitere Reisen unternehmen denn je. Denn der Kapitalismus ist überall, die Flugzeuge, die Badestrände, die Einkaufszentren und die Hotels gleichen sich wie ein Ei dem andern. Und überall herrscht das Geld, das Blut des Kapitalismus. Den Ausstieg aus der Sekte schaffen wir nicht, wenn wir möglichst viel und weit reisen. Wenn dem so wäre, dann wäre, in Anbetracht der Millionen Flugreisenden, auch in der Schweiz schon längst die Revolution ausgebrochen. Den Ausstieg aus der Sekte schaffen wir nur, wenn wir in unserem Allerinnersten einen Schalter umlegen und uns auf Schritt und Tritt zu fragen beginnen, ob alles nicht auch ganz anders sein könnte, als es ist.