Konkurrenzprinzip auf die Spitze getrieben

12’000 Chinesinnen und Chinesen reisen in verschiedenen Gruppen an sechs Tagen in der Schweiz herum und besuchen ihre Wunschdestinationen, teilt Luzern Tourismus mit. Die Touristen sind Angestellte der amerikanischen Firma Jeunesse Global, eines weltweit tätigen Unternehmens mit Hauptsitz in Florida. Dieses hat seine erfolgreichsten Verkäuferinnen und Verkäufer in China zu einer «Belohnungsreise» eingeladen.

(Tages-Anzeiger, 9. Mai 2019)

Höchstwahrscheinlich haben all jene Angestellten, die zuhause bleiben mussten, ebenfalls ihr Bestes gegeben. Wenn sie «faul» wären, dann wären sie nämlich gar nichts erst angestellt bzw. bereits wieder entlassen worden. So funktioniert das kapitalistische Konkurrenzprinzip: Alle geben ihr Bestes, alle strengen sich an, alle wollen erfolgreich sein, doch nur die Besten werden belohnt, durch Anerkennung, durch Lob, durch Geschenke, durch Boni, durch höhere Löhne, durch beruflichen und sozialen Aufstieg, usw. Und weil jeder hofft, selber eines Tages zu den Besten und Erfolgreichsten zu gehören, ist er bereit, auch noch so grosse Strapazen und Entbehrungen auf sich zu nehmen. Das Gleiche im Spitzensport, wo sich junge Menschen über Jahre härtesten Trainings buchstäblich körperlich ruinieren, am Ende des Tages aber doch nur ein paar wenige von ihnen auf dem Podest stehen. Das Gleiche in der Schule, die ebenfalls einem Wettlauf gleicht, bei dem sich alle aus Leibeskräften die beste Mühe geben, am Ende aber wiederum nur ein par wenige mit guten Noten, Anerkennung und Lob dafür belohnt werden. Die grosse Widersprüchlichkeit des Konkurrenzprinzips besteht darin, dass die «Guten» nur deshalb «gut» sein können, weil die «Schlechten» «schlecht» sind. In die Schweiz reisen zu können, macht die 12’000 Chinesen und Chinesinnen nicht zuletzt deshalb stolz, weil alle übrigen Angestellten der Firma nicht mitreisen dürfen. Der Podestplatz im Kunstturnen ist nur deshalb so begehrt, weil er von allen anderen Konkurrentinnen und Konkurrenten nicht erreicht wurde. Die gute Note in der Schule hat nur deshalb einen so hohen Stellenwert, weil sie von den meisten Mitschülerinnen und Mitschülern nicht erreicht wurde. Mit anderen Worten: Die «Verlierer» bezahlen mit ihren Strapazen, ihren Enttäuschungen und ihren Misserfolgen den Erfolg und den Triumph der «Gewinnerinnen» und «Gewinner». Würden aber, wenn man das Konkurrenzprinzip abschaffen würde, die Menschen immer noch so viel leisten wie im heutigen kapitalistischen System, in dem sich alle gegen alle in einem permanenten Wettstreit befinden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nur einen Blick auf die ersten Lebensjahre des Menschen werfen. Kinder leisten in dieser Zeit eine unglaubliche Lernarbeit, sie sind dabei zugleich äusserst effizient und äusserst erfolgreich. Nie geht es dabei darum, dass ein Kind besser oder schneller sein möchte als ein anderes. Der Motor zur Leistung kommt aus seinem Allerinnersten, der Mensch will arbeiten, will tätig sein und braucht hierfür keine Konkurrenten und Konkurrentinnen. Und so würde wohl auch die Arbeitswelt bestens funktionieren, wenn alles auf Kooperation statt auf Konkurrenz aufgebaut wäre. Es würden dann nicht mehr die 12’000 «tüchtigsten» Angestellten der Firma Jeunesse Global in die Schweiz reisen, sondern es würden alle Angestellten ein Wochenende in einem chinesischen Wellnesshotel geschenkt bekommen…