Klimawandel und vieles mehr: Der Kapitalismus darf nicht zerbrechen, nur die Menschen, die zu zerbrechlich sind und eine zu wenig dicke Haut haben, um ihn zu überleben…

“Die Schweiz muss sich besser an die Hitze anpassen”, titelt das Gratisblatt “20 Minuten” am 30. Juli 2024, dem Beginn einer prognostizierten Hitzewelle, bei der das Thermometer in einzelnen Regionen unseres Landes bis auf über 35 Grad ansteigen dürfte. “Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird die Hitzemortalität, die schon 2022 innerhalb eines einzigen Jahres schweizweit 623 Menschen das Leben gekostet hat, weiter zunehmen”, sagt die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero und fordert eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung”. Als wirkungsvolle Massnahmen zur Prävention gegen mehr Sterbefälle nennt Vicedo-Cabrero unter anderem “angepasste Kleidung, Reduzierung körperlicher Aktivitäten und Verzicht auf Drogen- und Medikamentenkonsum”. Auch Grünen-Fraktionschefin Aline Trede ärgert sich, dass “zu wenig gemacht wird und vor allem zu wenig koordiniert”. Dabei, so Trede, seien die Grundlagen darüber, was helfe, schon längst klar. So etwa könnten “fliessendes Wasser, angepasste Bäume und Entsiegelungen” in den Städten für deutlich mehr Abkühlung sorgen.

Der weltweite Kampf gegen den Klimawandel, von dem vor nicht langer Zeit noch die Rede war, scheint sich mittlerweile also nur noch darauf zu beschränken, mit was für Massnahmen die eigene Bevölkerung möglichst wirksam vor den Gefahren zunehmender Hitze geschützt werden kann. So empfiehlt auch das Bundesamt für Gesundheit: Mindestens 1,5 Liter Wasser sollten an einem Hitzetag getrunken werden, Alkohol sei zu meiden, der Konsum von zucker- und koffeinhaltigen Getränken sei zu reduzieren, fettarme Nahrung sei zu bevorzugen, der Körper sollte regelmässig durch kaltes Duschen oder Baden, Lotionen oder Kältepackungen abgekühlt werden, zu Hause sollten tagsüber die Fenster geschlossen werden, Lüften sollte man nur abends, nachts oder morgens früh, körperliche Aktivitäten sollten wenn möglich auf die Morgen- und Abendstunden verschoben werden.

Was für eine Diskrepanz zu jener in der Anfangszeit der grossen Klimademonstrationen immer wieder erhobenen Forderung nach einem “System Change”, einer grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Neuorientierung, ausgehend von der Erkenntnis, dass eine auf unbegrenztes Wachstum und unbegrenzte Profitmaximierung fixierte Wirtschaft und das Ziel einer massiven Reduktion der CO2-Emissionen unmöglich miteinander in Einklang gebracht werden können. Auf höchst erschreckende Weise scheint diese so grundlegende, zentrale und alles entscheidende Erkenntnis voll und ganz auf der Strecke geblieben zu sein: Von einem “System Change” spricht heute fast niemand mehr. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in den reichen Ländern und die Angehörigen einer wachsenden Oberschicht in den armen und ärmsten Ländern der Welt fliegen auf Teufel komm raus und in immer grösserer Zahl über alle Kontinente, als wäre nichts geschehen. Doch nicht nur das Reisen, auch unzählige andere Luxusvergnügungen, die sich eine privilegierte und immer reicher werdende Minderheit der Weltbevölkerung zu leisten vermag, schlagen alle Rekorde. Nur noch ein paar wenige “Unverbesserliche” tragen die Hoffnungen, von denen eben noch Millionen junge Menschen weltweit erfüllt waren, in ihren Herzen und müssen zu immer drastischeren Mitteln greifen, um überhaupt irgendwie noch wahrgenommen zu werden, während Millionen andere längst schon alle Hoffnungen auf eine lebenswerte Zukunft wohl für immer begraben haben.

Selbst Menschen, die eben noch an vorderster Front für ein radikales “Umdenken” und ein neues “Wertesystem” eintraten und von denen einige sogar von einer baldigen “Zeitenwende” träumten, scheinen sich kleinlaut damit abgefunden zu haben, dass sie heute bestenfalls noch “Expertinnen” und “Experten” sind beim Empfehlen von Massnahmen, mit denen sich eine sowieso schon höchst privilegierte, winzige Minderheit der gesamten Weltbevölkerung mit kühlem Wasser, Kältepackungen, Schatten, geschlossenen Fensterläden, wenig Bewegung, geringem Alkoholkonsum und fettarmer Ernährung gegen die zunehmende Hitze schützen kann, während siebenjährige Kinder in Indien bei 50 Grad auf endlosen Baustellen unter ihren Lasten fast zerbrechen, aus steinharter, tief vertrockneter Erde sich in immer weiter und weiter ausbreitenden Zonen des Südens kaum noch etwas Essbares herausarbeiten lässt, ganze Inselvölker ihre Häuser im Kampf gegen einen unerbittlich steigenden Meeresspiegel für immer zu verlieren drohen und selbst in den “wohlhabenden” Ländern des Nordens Strassenarbeiter beim Ausgiessen von 160 Grad heissem Asphalt und Landarbeiterinnen beim Ausstechen von Spargeln selbst zur heissesten Mittagszeit wohl nur ein müdes Lächeln übrig haben können, wenn irgendein “Gesundheitsexperte” in seinem vollklimatisierten Büro die Empfehlung herausgibt, schwere körperliche Arbeit sei in die frühen Morgenstunden oder späten Abendstunden zu verlegen.

Was für ein Triumph für all jene, die, als vor fünf Jahren Millionen von jungen Menschen weltweit mit dem Slogan “System Change” auf die Strasse gingen, schon das Weiterbestehen des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Gefahr sahen. Nun können sie wieder aufatmen. Die Gefahr ist vorüber. Statt die Ursache zu bekämpfen, werden wieder einzig und allein nur die Symptome bekämpft. Statt das System den Menschen anzupassen, wird nun wie eh und je wieder alles daran gesetzt, die Menschen dem System anzupassen. Auch der Skirennfahrerin, die nach einem lebensgefährlichen Sturz das Abtragen einer besonders gefährlichen Schanze fordert, wird von den Rennverantwortlichen gesagt, sie hätte offenbar ihren Beruf verfehlt. Der Kunstturnerin, die sich beim Training den Knöchel gebrochen hat, wird nicht erlaubt, das Training abzubrechen, es wird ihr einfach ein genug dicker Verband angelegt, sodass sie trotz fast unerträglicher Schmerzen das Training fortsetzen kann. Als sich der Postbote bei seinem Vorgesetzten über starke Rückenschmerzen beklagt, die infolge der immer schwereren Pakete und des zunehmenden Zeitdrucks seit Monaten immer mehr zugenommen hätten, wird ihm gesagt, er könne ja kündigen und bei der Konkurrenz eine neue Stelle antreten. Als ein siebzehnjähriger Lehrling auf einer Baustelle infolge einer Betonplatte, die auf seinen Rücken fiel, verstirbt, wird bloss sein direkter Vorgesetzter zur Rechenschaft gezogen, mit keinem Wort aber das dahinter steckende System ständig zunehmenden Zeitdrucks infolge der gnadenlosen Vorgaben von Bauherren, Immobilienfirmen und Investoren auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Als ein dreijähriger Bub von einem Lastwagen überrollt wird und seinen schweren Verletzungen erliegt, wird dem Fahrer der Führerschein entzogen, doch an den internen Richtlinien der Firma, welche die Einhaltung der ohnehin schon äusserst knapp bemessenen maximal zulässigen Fahrzeiten bis fast auf die Sekunde reglementieren, wird auch nicht ein einziger Punkt oder ein einziges Komma geändert.

Total überarbeitete und ausgelaugte Angestellte in Führungspositionen, die sich jeden Tag nur noch qualvoll zur Arbeit schleppen, werden zum Psychiater oder in eine Burnoutklinik geschickt, um für ihren Job so schnell wie möglich wieder fit zu werden, ohne dass bei den Arbeitsabläufen der Firma auch nur das Geringste geändert würde. Der Pflegerin im Altersheim, die von einer extrem aggressiven und widerspenstigen Patientin fast zu Tode gebissen worden wäre und nun wünscht, zukünftig bei solchen Einsätzen von einem männlichen Mitarbeiter begleitet zu werden, wird beschieden, dass dies infolge der einzuhaltenden Sparmassnahmen leider nicht möglich sei. Eine Laborantin, die nach 20 Stunden Arbeitseinsatz ohne Pause eine Blutprobe verwechselt hat, was beinahe zum Tod des betroffenen Patienten geführt hätte, nimmt sich das Leben, aber auch ihre Nachfolgerin muss infolge Personalmangels Einsätze von über 20 Stunden ohne Pause leisten und sich dabei permanent davor fürchten, früher oder später ebenfalls einen lebensbedrohlichen Fehler zu begehen. Der Friseurin, die unter fast unerträglichen Schmerzen in den Fingergelenken und ebenso in den Beinen, bedingt durch stundenlanges Stehen, leidet, schlägt ihre Chefin vor, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, ohne zu bedenken, dass die alleinerziehende Mutter dann viel zu wenig verdienen würde, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter bestreiten zu können. Als eine Umfrage bei vierzehnjährigen Schülerinnen ergibt, dass immer mehr von ihnen dermassen unter dem schulischen Leistungs- und Prüfungsdruck leiden, dass Suizidversuche in erschreckendem Ausmass zugenommen haben, empfiehlt die zuständige pädagogische Fachstelle nicht etwa die Überprüfung der schulischen Vorgaben, sondern, dass sich diese Mädchen halt, zum Beispiel durch sportliche Betätigung, schlicht und einfach eine “dickere Haut” zulegen müssten. Wenn nach 300 fast pausenlos aufeinanderfolgenden Konzerten die Stimmbänder der Popsängerin versagen, wird ihr jede erdenkliche medizinische Hilfe zuteil, aber nur, damit sie so schnell wie möglich wieder auf der Bühne steht und auch die nächsten 300 Konzerte zur Zufriedenheit all derer, die damit ihr grosses Geld verdienen, einigermassen unbeschadet zu bewältigen vermag. Denn der Kapitalismus, auch wenn er noch so tödlich ist, darf nicht zerbrechen. Zerbrechen dürfen nur all jene, die offensichtlich zu schwach und zu zerbrechlich sind und eine zu wenig “dicke Haut” haben, um ihn zu überleben.

Als die Umweltepidemiologin Ana Maria Vicedo-Cabrero eine “umfassende und systematische Strategie des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutze der Bevölkerung” gefordert hat, habe ich mir darunter eigentlich etwas anderes vorgestellt. Aber dass alles mit allem zusammenhängt und sich ohne eine Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells alle jetzt schon mehr als genug grossen Probleme, Belastungen und Zukunftsbedrohungen bis hin zu einer möglichen Auslöschung der gesamten Menschheit infolge von Armut, Hunger, Krieg und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nur immer weiter verschärfen werden, solange bloss reine Symptombekämpfung betrieben und den tatsächlichen Ursachen von allem auf den Grund gegangen wird, von diesem Gedanken scheint die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit zurzeit meilenweit entfernt zu sein, geblendet durch die ungebrochen wiederholten Heilsversprechen einer Minderheit Privilegierter, die aus allem Elend immer noch genug Nutzen ziehen und deshalb kein Interesse haben an einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse. Bis auch sie, wie Bertolt Brecht einst sagte, hoch auf ihren goldenen Karossen “von den schwitzenden Zugtieren mit in den Abgrund gerissen werden.” Noch hätten wir es in der Hand, ein solches Ende zu verhindern. Doch was müsste geschehen, um es nicht so weit kommen zu lassen?

(Nachtrag am 20. August 2024: Der “Tagesanzeiger” berichtet über ein neu entwickeltes Projekt, bei dem junge Menschen ab 16 Jahren zu “Wellguides” ausgebildet werden, die mit Schülerinnen und Schülern über Ängste, Sucht und Essstörungen diskutieren sollen. Die “Wellguides” zeigen, wie man mit seiner psychischen Gesundheit umgeht und wo man sich Hilfe holen kann, sie zeigen als sogenannte “Mental-Health-Influencerinnen” in aufwendigen Powerpointpräsentationen voller koomplizierter Schemas, wie psychische Krankheiten entstehen, sprechen über Bewältigungsstrategien gegen Stress, weisen auf Internetquellen, Broschüren und Anlaufstellen hin und stellen meistens gleich auch noch die Schulsozialarbeiterin vor, die als Vertrauensperson stets zur Verfügung steht. Nur etwas wird mit keinem Wort erwähnt: Dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung – und bloss ein weiteres lukratives Geschäftsfeld handelt – handelt, so lange nicht den tieferen Ursachen der psychischen Probleme auf den Grund gegangen wird. Typisch: In den Workshops ist immer wieder die Rede vom Einfluss der sozialen Medien und den durch Klimawandel und Kriege verursachten Ängste. Doch mit keinem Wort wird die Schule mit ihren steigenden Leistungsansprüchen, dem zunehmenden Stress, dem permanenten Prüfungsdruck und dem immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen erwähnt – und dies, obwohl in sämtlichen Umfragen bei Jugendlichen die Schule als Stressfaktor Nummer eins angegeben wird. Doch wird dieses System als etwas so Gottgegebenes, Unveränderbares und Unbeeinflussbares hingenommen, dass nur schon der erste Gedanke an eine mögliche Veränderung dieses Systems sozusagen einem generellen, heimlichen, nicht offen ausgesprochenen und doch einem alles beherrschenden Denkverbot unterworfen ist. Erneut hat auch innerhalb des vergangenen Jahrs die Zahl von Suizidversuchen Jugendlicher zugenommen und liegt jetzt bei fast fünf Prozent. Welche Prozentmarke muss wohl überschritten werden, bis endlich die “Heilige Kuh” Schule geschlachtet werden kann?)