Kipppunkte gesellschaftlicher Veränderungen: Vom Konkurrenzprinzip zum Prinzip der Kooperation

 

“An der Tanzakademie Zürich (TaZ)”, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 10. Juni 2022, “sollen Kinder und Jugendliche während Jahren unter psychischem Missbrauch, Erniedrigung und vereinzelt auch Gewalt gelitten haben.” Sima Bürgin, von 2013 bis 2015 an der TaZ als Dozentin für Ballett tätig, hätte schon im Jahre 2015 versucht, auf die Missstände aufmerksam zu machen, allerdings ohne Erfolg. “Die Schülerinnen und Schüler”, so Bürgin, “waren da nichts als Material, um sich als Unterrichtende selbst zu schmücken. Humanismus war ein Fremdwort. Ausserdem wurden die Dozentinnen unter Druck gesetzt und gegeneinander ausgespielt. Wer parierte, bekam die begabtesten Schülerinnen und mehr Stellenprozente. Man musste Spitzenresultate einfahren und so manche gab diesen Druck an die Schülerinnen und Schüler weiter. Zahlreiche Mädchen wurden in die Magersucht getrieben. Viele Tänzerinnen waren chronisch erschöpft und wiesen Stressfrakturen auf. Die Schulleitung lehnte es aber ab, sprungfreie Tage oder wenigstens ein freies Wochenende pro Monat einzuführen. An der Tanzakademie zittern die Lehrpersonen, leiden Kinder. Bis heute.” Angesprochen auf die Missstände, gibt einer der an der TaZ tätigen Tanzlehrer zu bedenken, dass man ohne ein gewisses Mass an Drill an internationalen Wettkämpfen gegenüber den Oststaaten, wo noch viel härtere Ausbildungsmethoden vorherrschen, absolut keine Chance hätte. Was für ein Wahnsinn! Ob im Ballett, im Kunstturnen, im Eiskunstlaufen oder im Skirennsport: Stets werden Trainingsmethoden, die immer näher an die äusserste Belastbarkeit des Körpers gehen, damit gerechtfertigt, dass die Konkurrentinnen und Konkurrenten eben noch härter trainieren und man deshalb selber gezwungen sei, noch dichter an die Grenze des eben noch Aushaltbaren zu gehen, um im gegenseitigen Konkurrenzkampf nicht den Kürzeren zu ziehen. Das ist fast so etwas wie Krieg: Je mehr Schmerzen die Balletttänzerin in Moskau oder in Tokio erleiden muss, umso mehr Schmerzen muss ich der Balletttänzerin in Zürich zufügen, um auch noch das Allerletzte aus ihrem Körper herauszuschinden, damit sie auf dem internationalen Parkett zumindest den Hauch einer Chance hat, nicht sang- und klanglos unterzugehen. Je schwierigere, waghalsigere und gefährlichere Sprünge eine Kunstturnerin zeigt, umso schwierigere, waghalsigere und gefährlichere Sprünge müssen ihre Konkurrentinnen zeigen, sich gegenseitig immer mehr in die Höhe schaukelnd. Je schneller der Skirennfahrer die Piste hinunterrast und gezwungen ist, sich dem Risiko eines Sturzes mit schweren Verletzungen auszusetzen, umso grösser der Druck auf alle seine Konkurrenten, noch schneller zu sein und noch grössere Risiken auf sich zu nehmen. Es sind nicht die “bösen” Tanzlehrerinnen, Trainerinnen und Trainer von Eiskunstläuferinnen und Skifahrern. Nein, es ist das “böse” Konkurrenzprinzip, in dem sie alle, Schülerinnen und Schüler wie auch Ausbildnerinnen und Ausbildner, gleichermassen gefangen sind. Nicht nur die Mädchen an der Tanzschule sind diesem Konkurrenzkampf ausgeliefert, sondern auch ihre Lehrerinnen, die ihrerseits an ihrem Erfolg im Vergleich mit den Lehrerinnen anderer Schulen gemessen werden und dementsprechend ebenso wie ihre Schülerinnen im täglichen Überlebenskampf zittern müssen und gezwungen sind, das Alleräusserste zu leisten, um diesen Überlebenskampf erfolgreich zu bestehen. Doch es ist ja nicht nur der Spitzensport. Es ist die ganze Wirtschaft, die ebenfalls auf dem Konkurrenzprinzip beruht. Jede Firma steht in einem permanenten Konkurrenz- und Überlebenskampf mit allen anderen Firmen, und dies weltweit. Jede Firma muss schneller und kostengünstiger produzieren als alle anderen und zwingt damit alle anderen dazu, noch schneller und noch kostengünstiger zu produzieren – mit zerstörerischen Folgen nicht nur für die Arbeiterinnen und Arbeiter, aus denen das Alleräusserste herausgepresst wird, sondern auch mit tödlichen Folgen für die natürlichen Ressourcen, die in einem Masse ausgeplündert werden, als gäbe es keinen Tag danach. Und weil es eigentlich nicht in der Natur des Menschen liegt, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen und sich bis zur Selbstzerstörung einen gegenseitigen Konkurrenz- und Vernichtungskampf zu liefern, muss das Konkurrenzprinzip den Menschen zunächst erst einmal beigebracht werden. Und damit sind wir beim heimlichen Lehrplan der Schule. In der Schule nämlich erlernen die Kinder nicht vor allem das Schreiben und das Rechnen – das würden sie nämlich auch ohne Schule lernen und wahrscheinlich sogar noch besser. Nein, in der Schule lernen die Kinder vor allem das Konkurrenzprinzip.: dass man stets mit vielen anderen in einem permanenten gegenseitigen Wettstreit steht und dass es stets darum geht, schneller und besser zu sein als die anderen. Die Absurdität des Konkurrenzprinzips zeigt sich im gegenseitigen Wettkampf der Schülerinnen und Schüler um gute Noten, gute Zeugnisse und gute Zukunftschancen ganz besonders deutlich: Während man den Kindern vorgaukelt, jedes könne, wenn es sich nur genug anstrenge, erfolgreich sein, ist es ja das Notensystem, welches gerade dies verhindert, indem es so angelegt ist, dass stets nur ein paar wenige Kinder auf die oberste Sprosse der Erfolgsleiter gelangen können und alle anderen mehr oder weniger scheitern – genauso wie die Balletttänzerinnen, die sich allesamt bis zum Äussersten aufopfern und selbst ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, von denen aber am Ende nur eine Einzige als berühmte und bejubelte Primaballerina international gefeiert werden wird. Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf den Klimawandel. Dort ist oft die Rede von “Kipppunkten”. Es gibt aber nicht nur klimatische und ökologische Kipppunkte. Es gibt auch Kipppunkte gesellschaftlicher Veränderungen. Geht eine Entwicklung immer weiter an ihre Grenze oder überschreitet sie diese sogar, dann kann es sein, dass diese Entwicklung auf einmal in die Gegenrichtung umschlägt – eben ein Kipppunkt. So könnte es auch mit dem Konkurrenzprinzip sein, das in sämtlichen Lebensbereichen immer mehr an eine zerstörerische Grenze gelangt und seine inneren Widersprüche und seine Absurdität immer deutlicher offenbart. An die Stelle des Konkurrenzprinzips würde dann das Prinzip der Kooperation treten – Lebensbedingungen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse, die es jedem Menschen ermöglichen, sein individuelles Potenzial an Begabungen und Fähigkeiten zu entfalten, ohne dabei stets mit anderen verglichen zu werden und einem permanenten gegenseitigen Wettkampf ausgeliefert zu sein. Denn man kann das nicht voneinander trennen: Das Wohlergehen der Menschen, der Wirtschaft und der Natur, alles hängt mit allem zusammen, entweder geht es allen gut oder es geht allen schlecht. Die gute Nachricht ist: Das Prinzip der Kooperation muss den Menschen nicht aufgezwungen werden, denn es liegt bereits in der Natur des Menschen. Jedes neugeborene Kind zeigt uns, wenn wir dafür nur genug empfänglich sind, dass der Mensch von Natur aus ein fürsorgliches, soziales, hilfsbereites Wesen ist – nicht einmal eine ganz und gar auf Konkurrenzkampf ausgerichtete Erziehung kann dies gänzlich auslöschen. Die Hoffnung auf den Kipppunkt, der das Konkurrenzprinzip in das Prinzip der Kooperation umschlagen lässt, ist daher nicht bloss ein schöner Traum, sondern vielleicht schon früher, als wir denken, Realität. “Wir malen sie uns aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden, die Zukunft, von der wir träumen”, sagt die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer, “das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.”