Kein Wunder, laufen uns die Handwerker, die Krankenpflegerinnen, die Fleischer und die Kellnerinnen scharenweise davon…

 

Wie der “Spiegel” am 4. Oktober 2021 berichtet, zeichnet sich in Deutschland in vielen Branchen ein immer grösserer Arbeitskräftemangel ab. So etwa bei den Bäckerinnen und Bäckern. “Auch die Fleischerinnen und Fleischer laufen uns davon”, so Thomas Lissner, Chef der Gewerkschaft NGG in der Region Dresden-Chemnitz. In Ortschaften, wo es früher mehrere Restaurants gab, findet sich heute nur noch eines und auch dieses hat nur noch halbtags geöffnet, auch dies eine Folge akuten Personalmangels. In Norddeutschland beklagt die IG Metall, dass Windkraftbauer kaum noch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Und der Zentralverband des Deutschen Handwerks sieht gar die deutschen Klimaziele in Gefahr: All die zusätzlichen Bau- und Instandsetzungsvorhaben seien mit dem jetzigen Stamm an Beschäftigten kaum hinzukriegen. Nicht besser sieht es bei den Spediteuren aus, denen die Fernfahrerinnen und Fernfahrer zunehmend ausgehen. Und auch die Kita-Verbände melden akuten Personalmangel. Die gleiche Entwicklung, wenn auch weniger dramatisch, können wir in der Schweiz feststellen. Hier zeigt sich der Personalmangel vor allem im Pflegebereich, in der Gastronomie, bei den Handwerkerinnen und Handwerkern, im Hoch- und Tiefbau sowie in der Lebensmittelindustrie. Dass wir bis jetzt trotzdem einigermassen gut über die Runden gekommen sind, verdanken wir vor allem jenen hunderttausenden ausländischen Arbeitskräften vom Zimmermädchen, der Putzfrau und der Kellnerin über den Fabrikarbeiter und den Buschauffeur bis zum Erntehelfer und zur Krankenpflegerin, die dafür sorgen, dass sich unsere Wirtschaft über Wasser halten kann und nicht schon längst kollabiert ist. Dass in Deutschland so grosser Personalmangel herrscht und die Schweiz zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist, dies ist allerdings kein Zufall. Es ist vielmehr die unmittelbare Folge einer jahrzehntelangen gesellschaftspolitischen Entwertung all jener beruflichen Tätigkeiten, die ganz unten, an der Basis der Arbeitswelt, geleistet werden, einerseits existenziell notwendig sind, anderseits aber im Entferntesten nicht die Beachtung und Wertschätzung erfahren, die sie eigentlich verdienen würden. Schon in den Schulen wird den Kindern eingetrichtert, gute Noten seien deshalb so wichtig, weil sie die Türen für spätere “höhere” Bildung und damit verbunden gutbezahlte Jobs öffnen würden. Alle reden pausenlos davon, man müsse sich lebenslang weiterbilden, jeder einmal erreichte Stand sei bloss eine Sprosse auf der Leiter zu “Höherem”. Niemand kann einfach Schreiner oder Krankenpflegerin sein, ohne von allen Seiten den Druck zu spüren, man müsste im Leben doch mindestens eine Berufsmatura oder wenn möglich einen Bachelor oder einen Master absolvieren, um ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Es ist ein geradezu grotesker Widerspruch: Einerseits werden die Menschen pausenlos dazu aufgefordert, in ihrer beruflichen Karriere “vorwärtszukommen”, anderseits ist die Wirtschaft existenziell davon abhängig, dass Menschen auf den “untersten” Etagen, an der Basis von allem, all jene undankbaren, anstrengenden und schlecht bezahlten Jobs erledigen, ohne welche, wenn sich niemand darum kümmern würde, die ganze Wirtschaft augenblicklich in sich zusammenbrechen würde. Dreifach sind die Arbeiterinnen und Arbeiter an den “unteren” Rändern der Arbeitswelt gestraft: Erstens leiden sie in aller Regel unter extrem harten Arbeitsbedingungen, denke man nur an das Pflegepersonal in den Krankenhäusern, an die Zimmermädchen und Köche in den Hotels oder an die Arbeiter auf dem Bau und in Schlachthöfen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Zweitens leiden die Arbeiterinnen und Arbeiter an den “unteren” Rändern der Arbeitswelt unter der fehlenden gesellschaftlichen Wertschätzung – eigentlich müsste man zu Menschen, die Tag für Tag unter so schwierigen Umständen einen so unentbehrlichen Beitrag zur Gesellschaft leisten, hinaufschauen und sie geradezu als “Helden” und “Heldinnen” feiern, doch das Gegenteil ist der Fall: Während sie namenlos ihre tägliche Schwerarbeit verrichten, feiert man nicht sie zu Helden und Heldinnen, sondern Konzernchefs, Politiker, Spitzensportlerinnen und Stars aus der Musik- oder Filmszene. Drittens leiden die Arbeiterinnen und Arbeiter an den “unteren” Rändern der Arbeitswelt trotz der schweren, oft gefährlichen und gesundheitsschädigenden Arbeit unter zumeist tief unterdurchschnittlichen Löhnen. Solange harte Arbeitsbedingungen, fehlende Wertschätzung und niedrige Löhne auf den “untersten” Rängen der Arbeitswelt anhalten, müssen wir uns nicht wundern, wenn die Menschen, welche diese Arbeit bisher verrichtet haben, zunehmend “scharenweise davonlaufen”. Um diesem Trend längerfristig entgegenzuwirken, werden wir nicht darum herumkommen, bisherige Denkmuster radikal zu hinterfragen. Erstens müssen die Arbeitsbedingungen so umgestaltet werden, dass sie die Menschen nicht mehr krankmachen, sondern ein lustvolles Arbeiten im Einklang mit den tatsächlich vorhandenen körperlichen und psychischen Kräften ermöglichen. Dies geht nur durch eine Abkehr vom unseligen Konkurrenz- und Profitabilitätsprinzip, welches verlangt, dass jeder Arbeiter und jede Arbeiterin – gleichsam im Wettkampf gegen alle anderen Arbeiterinnen und Arbeiter – jeweils stets die allerhöchste Leistung erbringen muss und daher einem permanenten zerstörerischen Zeitdruck ausgesetzt ist. Zweitens sollen körperliche, handwerkliche, soziale, musische und intellektuelle Begabungen die gleiche Wertschätzung erfahren. Das muss schon in der Schule beginnen, wo zum Beispiel das Kind, das sich liebevoll um ein anderes kümmert, dafür ebenso viel Anerkennung bekommen sollte wie das Kind, das eine tadellose Mathematikprüfung schreibt. Drittens braucht es gerechte Löhne. Nüchtern betrachtet, erbringt der Bauarbeiter, der bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte mit den schweren Brettern auf dem Gerüst hoch- und niedersteigt, eine ungleich höhere Leistung als der Bankbeamte, der in der wohlgeheizten und klimatisierten Schalterhalle seine Kundinnen und Kunden bedient. Nüchtern betrachtet, müsste daher der Bauarbeiter eigentlich einen höheren Loh bekommen als der Bankbeamte. Oder, und das wäre immerhin ein Schritt in die richtige Richtung, er müsste gleich viel verdienen. Gedanken, die heute leider noch keine Mehrheiten finden. Aber wenn eines Tages der letzte Koch sein letztes Schnitzel gebraten, die letzte Putzfrau das letzte Direktionspult abgestaubt und die letzte Krankenpflegerin den letzten Patienten gesundgepflegt hat, dann werden wir sehen, dass irgendwo im Aufbau und der Entwicklung der kapitalistischen Arbeitswelt etwas Zentrales ganz gehörig schief gelaufen ist.