Kapitalistische Klassenjustiz: Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen

Vier kleinere Diebstähle – 20 Franken aus der Münzkasse einer Waschmaschine, ein Portemonnaie im Wert von 220 Franken sowie Sonnenbrillen im Wert von insgesamt 770 Franken -, drei gescheiterte Diebstahlversuche, Schwarzfahren und das “Entleihen” eines Velos – dies die Delikte, für die sich ein 28-Jähriger dieser Tage vor dem Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland zu verantworten hatte. Weil Unverbesserliche strenger bestraft werden als Ersttäter, forderte die Anklage für den jungen Mann zehn Monate Haft. Die Verteidigung anderseits forderte Milde, nicht zuletzt in Anbetracht der schwierigen Jugendzeit des Angeklagten – er wurde von seinem Stiefvater, bei dem er lebte, immer wieder brutal verprügelt -, sowie auch, weil die Diebstähle als geringfügig einzuschätzen seien und zwei von ihnen nicht einmal bewiesen werden konnten. Dennoch fiel das Strafmass ganz im Sinne der Anklage aus und der junge Mann wurde zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt.

(W&O, 29. Januar 2020)

So etwas muss man schlicht und einfach als “Klassenjustiz” bezeichnen. Eine Klassenjustiz, die knallhart zwischen “legalem” und “illegalem” Diebstahl unterscheidet. Oder ist es etwa kein Diebstahl, wenn Manager und Aktionärinnen Millionengewinne scheffeln einzig und allein dank dem Umstand, dass zahllose Angestellte in den betreffenden Firmen und Konzernen weitaus weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich wert wäre? Oder ist es etwa kein Diebstahl, wenn Spitzenverdiener und Spitzenverdienerinnen bis zu 300 Mal höhere Löhne einkassieren als jene rund halbe Million Schweizer und Schweizerinnen, die von ihrem Lohn selbst bei voller Erwerbstätigkeit nicht einmal eine Familie ernähren können? Und ist es kein Diebstahl, wenn die Schweiz – obwohl sie über keine eigenen Bodenschätze verfügt – dennoch das reichste Land der Welt ist, während halbe Kontinente im Elend versinken? Nicht die Gerechtigkeit, sondern der Kapitalismus – und damit all jene, die zu den Profiteuren des herrschenden Macht- und Ausbeutungssystems gehören – entscheidet, wer für welches Vergehen ins Gefängnis gehen muss und wer für welches Vergehen in Freiheit bleiben darf oder dafür sogar noch belohnt wird. Dass Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus miteinander vereinbar sind, daran glauben wohl bald nur noch jene, die auch ans Christkind und den Samichlaus glauben. Wie viel hat schon wieder Aktionär D.F. Ende letzten Jahres an Dividenden eingestrichen? Kleine Rechenaufgabe: Wie lange müsste er wohl ins Gefängnis, wenn man ihn genau gleich behandeln würde wie den 28jährigen Sonnenbrillenklauer aus dem St. Galler Rheintal?