Kapitalismus – was ist das eigentlich?

 

Wer sich gegenüber dem Kapitalismus kritisch äussert, sieht sich oft mit solchen und ähnlichen Reaktionen konfrontiert: Was hast du denn, kein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell war im Verlaufe der Geschichte so erfolgreich und kein anderes hat uns so grossen Wohlstand und so viel Freiheit beschert. Oder: Was hast du denn, wir leben doch gar nicht im Kapitalismus, sondern in der “Freien Marktwirtschaft”. Oder: Möchtest du lieber den Kommunismus, Zustände wie in der früheren Sowjetunion oder DDR? Oder: Kapitalismus, was ist das eigentlich? Beginnen wir beim letzten Punkt: Was ist Kapitalismus eigentlich? Nehmen wir, um diese Frage zu beantworten, eine zweifellos unverdächtige Quelle, den Duden. Dort finden wir unter dem Stichwort “Kapitalismus” folgende Definition: “Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, deren treibende Kraft das Gewinnstreben Einzelner ist.” Wie aktuell diese Definition ist, wird uns spätestens bewusst, wenn wir einen Blick auf die reichsten Menschen dieser Welt werfen. Gemäss dem Wirtschaftsmagazin “Forbes” wuchs das Vermögen der 3000 reichsten Menschen der Welt zwischen 2020 und 2021 um ganze fünf Billionen auf 13 Billionen Dollar! Doch das ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Weltweit, selbst in den ärmsten Ländern, gibt es eine Klasse von reichen und reichsten Menschen, deren Reichtum von Jahr zu Jahr ins Unermessliche steigt. Zwar wird oft behauptet, der Reichtum der Reichen hätte eine positive Wirkung auf den Lebensstandard der Armen. Eine Behauptung, die jeglicher Grundlage entbehrt: Während die Reichen und Reichsten ihren Reichtum von Jahr zu Jahr vermehren, leben Milliarden von Menschen in bitterster Armut, haben nicht genug zu essen, müssen in notdürftigen Behausungen leben, unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen und ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Kultur. Doch die Armut kennt ebenso wenig nationale Grenzen wie der Reichtum. Selbst in den reichsten Ländern der Welt gibt es immer mehr Menschen, die von ihrem Einkommen kaum anständig leben können oder, um einigermassen über die Runden zu kommen, gleich mehreren Jobs nachgehen und damit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. An dieser Stelle höre ich den Einwand, sie alle – die Putzfrau in einem deutschen Bürohochhaus, der Kehrichtmann in Madrid oder das Zimmermädchen in einem griechischen Hotel – müssten sich eben bloss ein bisschen mehr anstrengen und dann würde es ihnen mit der Zeit auch besser gehen. Doch die Putzfrau, der Kehrichtmann und das Zimmermädchen könnten sich noch so anstrengen, sie würden dennoch kein grösseres Stück des allgemeinen Wohlstandskuchens ergattern können. Die ungleiche Verteilung von Reichtum und Armut ist kein Zufall, sie entspringt dem Wesen des Kapitalismus: Für jeden Reichen braucht es hundert Arme. Denn der Reichtum der Reichen fällt nicht vom Himmel. Der Reichtum der Reichen wächst aus der Armut der Armen. Wenn der Minenarbeiter irgendwo in Afrika jene Rohstoffe zu Tage befördert, die später in Deutschland oder Schweden zur Herstellung von Automobilen verwendet werden, dann sind die Profite, die mit der Herstellung dieser Automobile erzielt werden – bis hin zu den Konzernchefs und den Aktionärinnen und Aktionären – die unmittelbare Folge des viel zu niedrigen Lohns des Minenarbeiters, der viel zu tiefen Preise für die Rohstoffe und der viel zu geringen Investitionen in die Sicherheit, in den Umweltschutz und in die Wohnstätten, sanitären Einrichtungen und Bildungsstätten, wo die Minenarbeiter und ihre Familien leben. Auf millionenfachen Wegen steht immer am einen Ende der Kette der Reiche und am anderen Ende der Arme. Den Kapitalismus könnte man auch mit einer Medaille vergleichen: Die eine Seite der Medaille ist glänzend und wunderschön, glitzert und funkelt nur so von Lebenslust und Lebensfreude inmitten einer schier endlosen Warenwelt. Die andere Seite der Medaille dagegen ist voller Blut, voller Tränen, voller Schmerzen, voller Entbehrungen und viel zu harter Arbeit bei fast keinem Lohn und nicht der geringsten Aussicht auf ein besseres Leben. Ausbeutung ist das Schlüsselwort. Man hört es nicht gern, doch es ist in Tat und Wahrheit das eigentliche Grundprinzip des Kapitalismus: Die einen presst man aus wie Zitronen bis zum Alleräussersten – den anderen lädt man alle Köstlichkeiten der Welt auf ihre Tische, bis sie beinahe zusammenbrechen. Doch nicht nur die Menschen werden ausgebeutet. In fast noch grösserem Ausmass wird die Natur ausgebeutet, so als wäre alles bis in alle Ewigkeit endlos vorhanden. Gnadenlos fallen Tag für Tag riesige Tropenwälder der Gier nach immer grösseren Profiten aus dem Export von Fleisch und Futtermitteln zum Opfer. Noch die letzten Reserven seltener Metalle werden ausgeplündert, der Tatsache zum Trotz, dass in nicht allzu ferner Zukunft nichts mehr davon übrig geblieben sein wird. Mit Pestiziden und immer grösseren und schwereren Landmaschinen wird das Allerletzte aus den Böden herausgepresst – bis eines Tages auf den so geschundenen Flächen überhaupt nichts mehr wachsen wird. Und damit sind wir, nach dem Gewinnstreben und der Ausbeutung, beim dritten Prinzip des Kapitalismus, dem Dogma eines unbegrenzten Wachstums. Dies wiederum hängt zusammen mit dem vierten Prinzip, dem Konkurrenzprinzip. Kapitalismus bedeutet: Wettkampf aller gegen alle. Jeder einzelne kapitalistische Betrieb steht in einem permanenten Konkurrenz- und Überlebenskampf mit allen anderen Betrieben. Wer in diesem gnadenlosen Wettkampf überleben will, muss stets eine Nasenlänge schneller und billiger sein als die Konkurrenz. Und weil die so genannte “Globalisierung” – die bloss ein etwas wohlklingenderes Wort ist für die weltweite Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung – heute schon bis in die äussersten Winkel aller Kontinente vorgedrungen ist, steht eigentlich schon die ganze Welt in gegenseitiger Konkurrenz: Die Textilarbeiterinnen in Bangladesch wetteifern mit den Textilarbeiterinnen in Vietnam, der schweizerische Schreiner muss sich gegen deutsche oder österreichische Konkurrenten behaupten, deutsche Automobilfabriken wetteifern mit der amerikanischen und italienischen Konkurrenz, afrikanische Kakaoproduzenten stehen unter dem Druck, nicht von lateinamerikanischen Produzenten verdrängt zu werden. Und alle sind in diesem sich immer schneller drehenden Karussell gezwungen, immer härter und schneller zu arbeiten und zu immer kleineren Preisen immer grössere Mengen zu produzieren, bloss um nicht im gegenseitigen Überlebenskampf auf der Strecke zu bleiben. Und so erklärt sich auch das Dogma des endlosen Wachstums: Der gegenseitige Konkurrenzkampf zwingt zu einer permanenten Produktionssteigerung. Nur so kann der Gewinn kontinuierlich gesteigert  und damit das Überleben der eigenen Firma oder des eigenen Konzerns im Kampf aller gegen alle gesichert werden. Wer bei alledem immer noch behauptet, der Kapitalismus sei die beste aller möglichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, verschliesst wohl beide Augen vor der Realität. Vor allem aber verschliesst er die Augen vor der Zukunft. Sowohl das Gewinnstreben Einzelner wie auch die Ausbeutung, das Wachstumsprinzip und der globale Konkurrenzkampf müssen zwangsläufig früher oder später an einen “Point of no Return” gelangen, an einen Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt. Wir diskutieren heute zwar fast ausschliesslich über den Klimawandel. Aber das ist nicht das einzige Unheil, auf das wir zusteuern, wenn vermutlich auch das Bedrohlichste. Aber auch alle anderen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fehlentwicklungen, die der Kapitalismus mit sich bringt, müssen Anlass zu grösster Besorgnis sein. Wir werden nicht daran vorbeikommen, den Kapitalismus zu überwinden und durch ein von Grund auf neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ersetzen, das nicht auf Profitgier und gegenseitigem Konkurrenzkampf, auf der Ausbeutung von Mensch und Natur und auf dem Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums beruht, sondern auf einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und auf einem guten Leben für alle, nicht für die heutige, sondern auch für alle zukünftigen Generationen. Zuletzt komme ich auf zwei Fragen zurück, mit denen dieser Text eingeleitet wurde. Die erste betrifft den Begriff der “Freien Marktwirtschaft”. Der Idee einer “Freien Marktwirtschaft” könnte durchaus etwas Positives abzugewinnen sein. Allerdings nur, wenn alle an diesem Markt Beteiligten über die gleich langen Spiesse verfügen, was im Kapitalismus eben ganz und gar nicht der Fall ist. Zwei Beispiele: Der Wohnungsmarkt in europäischen Städten wie Zürich und Berlin: Während Luxuswohnungen leer stehen, die niemand bezahlen kann, ist es für Minderbemittelte praktisch unmöglich, eine passende und auch bezahlbare Wohnung zu finden – der Markt funktioniert nicht im Geringsten. Auch global betrachtet ist nichts von einer wirklich gut funktionierenden “Freien Marktwirtschaft” zu sehen. So fliessen weltweit die Güter eben gerade nicht zu den Menschen, die sie am dringendsten bräuchten, sondern zu jenen Menschen, die genug Geld haben, um sie tatsächlich kaufen zu können: Unmengen an Nahrungsmitteln aus Ländern, wo Menschen Hunger leiden, landen in europäischen Supermärkten, wo sowieso schon alles im Überfluss vorhanden ist und sich die Menschen sogar den unsäglichen Luxus leisten können, einen Drittel sämtlicher Lebensmittel in den Müll zu werfen. Zu behaupten, wir lebten in einer “Freien Marktwirtschaft”, nicht im Kapitalismus, bedeutet daher eine Beschönigung der Realität und verunmöglicht eine eingehende Analyse der dem Kapitalismus zugrundeliegenden Mechanismen. Zuletzt noch die Sache mit dem “Kommunismus”. Gerne wird Menschen, die sich über den Kapitalismus kritisch äussern, unterstellt, sie seien “Kommunisten”. Als gäbe es nur Schwarz oder Weiss, hier der Kapitalismus, dort der Kommunismus. Mit einer solchen Etikettierung wird aber jegliche weitere Diskussion, jedes weitere Nachdenken abgewürgt. Und genau dies, das kritische Nachdenken wie auch der offene Dialog, ist in der heutigen Zeit grösster Herausforderungen so wichtig. Weder der Kapitalismus, so wie er sich heute gebärdet, noch der Kommunismus, wie er in der Sowjetunion praktiziert wurde, können unsere Zukunft sein. Individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit haben den gleichen Stellenwert und bedingen sich gegenseitig. Die Epoche des Kommunismus ist vorbei. Die Epoche des Kapitalismus nähert sich ihrem Ende. Es wird Zeit für etwas Neues, das nicht von “oben” oder gar durch Zwang verordnet wird, sondern aus den Menschen herauswächst, die hier und heute leben. Hierzu bedarf es globaler Netzwerke, grenzüberschreitender Bewegungen, es bedarf der Solidarität zwischen den Menschen der reichen und der armen Länder. Denn die “Globalisierung” des Kapitalismus kann nur überwunden werden, wenn sich auch seine Gegenkräfte weltweit “globalisieren”…