Jugendidealismus und Realpolitik zwischen Traum und Wirklichkeit

 

Wenn sich in diesen Tagen in Deutschland die SPD, die Grünen und die FDP auf den Weg zu Koalitionsverhandlungen im gegenseitigen Ringen um zukünftigen Einfluss und Führungspositionen begeben, dann ist dies nicht nur die Auseinandersetzung zwischen den Führungsgremien jener drei Parteien, die in den Bundestagswahlen am erfolgreichsten abgeschnitten haben. Es ist zugleich die Auseinandersetzung zwischen dem, was man als “Träume” und “Idealismus” und dem, was man als “Wirklichkeit” und “Realpolitik” bezeichnen könnte. Ist nämlich die jüngere Generation – angefangen von der Klimabewegung bis zu den Jungen Grünen und den Juso – voller Tatendrang, voller Ungeduld, voller Visionen von einer gerechten und lebenswerten Zukunft, so sind eben solche Ungeduld und solche Visionen bei der “älteren” Generation nur höchst selten anzutreffen. Es ist der ewig gleiche Konflikt zwischen dem “vernünftigen” Erwachsenen und dem “ungestümen” Kind. Ich erinnere mich gut: Als ich im Alter von etwa zwölf Jahren so “naiv” war, mir eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg zu erträumen, belehrte mich mein Vater, dies wäre gar nicht möglich, da es in der Geschichte der Menschheit immer schon Kriege gegeben habe und dies deshalb auch in Zukunft weiterhin so sein werde. Und auch König Kreon warnte in der griechischen Sage seine Tochter Antigone davor, ihren Bruder, der bei den Mächtigen des Landes in Ungnade gefallen war, entgegen aller Gesetze zu bestatten – und sich dadurch den Zorn der Götter aufzuladen. Seither hat sich die Geschichte von Kreon und Antigone abertausendfach wiederholt. Und auch in diesen Tagen werden in Deutschland einmal mehr der Jugendidealismus und die Träume von einer anderen Welt auf dem Altar der “Realpolitik” zu Grabe getragen. Warum nur werden die Menschen fast alle im Verlaufe ihres Lebens so furchtbar erwachsen? Warum geben die Menschen im Laufe ihres Lebens fast alle ihre kindlichen und jugendlichen Träume auf? Warum werden die meisten von ihnen, obwohl sie doch gerade selber noch Kinder gewesen waren, plötzlich zu Erwachsenen, die nun ihrerseits wieder ihre eigenen Kinder belehren und zu möglichst “vernünftigen” Wesen erziehen wollen? “Im Jugendidealismus”, sagte der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer, “erschaut der Mensch die Wahrheit, mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.” Ja, es wäre so etwas wie eine Revolution, der Sprung in ein neues Zeitalter. Und es liegt so nahe, wir müssen es gar nicht erfinden, es wird uns jeden Tag millionenfach geschenkt, mit jedem Kind, das geboren wird und die Sehnsucht nach unendlicher Liebe und Gerechtigkeit noch in sich trägt. Ich weiss, die “vernünftigen” Erwachsenen werden sagen: Aber die Welt ist nicht so, Ungerechtigkeit und Machtkämpfe sind Tatsachen, denen wir uns stellen müssen, Träume von einer anderen Welt mögen schön sein, aber sie helfen uns nicht dabei, die Probleme, die wir hier und heute haben, zu lösen. Nun ja, aber dann wird nie etwas aus diesem Traum von der unendlichen Liebe und Gerechtigkeit. So “naiv” es klingen mag: Ich plädiere dafür, an das Unmögliche zu glauben. “Tue zuerst das Notwendige”, sagte Franz von Assisi, “dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche.”
Vielleicht hilft uns dieses Bild weiter: Wenn wir erwachsen werden, dann sollten wir möglichst nur mit einem Bein dieses “vernünftige” Wesen werden, das wir uns unter einem “normalen” Erwachsenen vorstellen, während wir mit dem anderen Bein in der Welt des Kindes, der Jugend, der Visionen und der Träume verbleiben sollten. Das würde sich in allen unseren täglichen Verhaltensweisen niederschlagen und uns stets anspornen, einerseits zwar auch kleine, auf den ersten Blick geringfügige Schritte anzupacken, dabei anderseits aber nie das grosse Ganze aus den Augen zu verlieren – wie ein in weiter Ferne liegender Fixstern, der dem täglichen Handeln zuverlässig die Richtung weist. Ja, eine solche Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit könnte unter Umständen schmerzvoll und manchmal vielleicht kaum aushaltbar sein. Aber sie wäre der einzige Weg in ein neues Zeitalter, in dem sich nicht mehr die Kinder bemühen würden, möglichst schnell erwachsen zu werden, sondern die Erwachsenen, möglichst lange Kinder zu bleiben. “Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen”, sagte Mark Twain, “wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.” Ich bin zuversichtlich. Noch nie hatte Antigone so viele Nachfolgerinnen und Nachfolger wie heute.